Der Kofferträger (German Edition)
einer kräftigen Hakennase und einem energischen Kinn. Die kleinen Augen über schweren Tränensäcken funkelten in einem strahlenden Blau. Die Wangen glühten rot entweder von der Überraschung durch diesen unerwarteten Gast oder von der Kälte. Schütz konnte sich vorstellen, wie der Greis in seiner Jugend viele Mädchen verführt haben mochte.
„Sei herzlich willkommen, mein Gott ist es schön, dich zu sehen.“
Diese, lang vermisste Herzlichkeit trieb Schütz die Tränen in die Augen.
Mit seiner bröckelnden Stimme kicherte der Alte, als hätte er gerade jemanden übers Ohr gehauen. Auf dem uralten Elektroherd brachte er Wasser zum Kochen und bald übertönte der herzhafte Geruch eines Früchtetees den Mief der Jahrhunderte. Ohne Schütz zu fragen, schnitt er Brot auf, reichte ihm Butter, Marmelade und Käse.
„Bediene dich.“
„Danke. Ich habe einen mächtigen Hunger. Das ist sehr lieb von dir. Ich glaube, ich bin auch ziemlich müde.“
„Das verstehe ich. Wenn du mit dem Essen fertig bist, erzählst du mir deine Geschichte.“
Schütz biss gerade in ein herzhaftes Marmeladenbrot und nickte. Inwieweit er seine Geschichte erzählen würde, müsste er sich noch überlegen.
Als er den letzten Schluck heißen Tees aus seiner Tasse genommen hatte, lachte Onkel Siegfried begeistert.
„Für einen Toten siehst du verdammt stramm aus. Ich habe die Nachricht irgendwo hier in einem Parteiblatt im Aushang gelesen. Winzig, ich glaube nur zwei Zeilen. Niemand weiß, wie du aussiehst, keiner wusste was mit dir anzufangen. Mein Junge, du warst ja auch lange genug nicht hier.“
Den leichten Vorwurf überhörte Schütz, schließlich hatte er noch nicht einmal seine Frau dem Onkel vorgestellt.
„Um so besser, wenn mich hier niemand kennt. Kann ich eine Weile bei dir bleiben?“
„Nichts lieber als das. Du weißt, ich habe mich immer über deinen Besuch gefreut. Ein Hotel kann ich dir nicht bieten. Du musst schon mit der Couch da vorlieb nehmen, reichlich durch gelegen“, dabei zeigte er auf das alte Sofa.
Onkel Siegfried hörte Aufmerksam zu, als Schütz seine Erkenntnisse, Vermutungen und Abenteuer berichtete. Wie würde Siegfried reagieren? Bei den seltenen Besuchen, die viele Jahre zurücklagen, hatte das Auge des Onkels wohl wollend auf seinem Neffen geruht. Er hatte einen guten Beruf und vor allen Dingen verkehrte er in den obersten gesellschaftlichen Kreisen, das hatte Siegfried ab und zu betont. Was würde er zu der neuen Wendung sagen? Jürgen beobachtete seinen Gesprächspartner aufmerksam. War der Onkel siebzig, achtzig oder älter? Wenn er die Familiengeschichte nachrechnete, ergaben sich für Siegfried etwa einundachtzig Jahre. Ein stolzes Alter, aber nichts Außergewöhnliches. Der alte Mann zeigte sich an den Vorgängen sehr interessiert. In seinen Augen flackerte der Sturm der Jugend, das Licht der Ehrlichkeit. Selbst bei der Studentenrevolte war er dabei gewesen. Vielleicht hatte er sogar damals noch Steine geworfen. Ohne ein einziges Wort von ihm wusste Jürgen, sein Onkel war stolz auf ihn.
So berichtete er weiter, ließ nicht ein einzelnes Kabinettstückchen aus. Zwischendurch ermunterte ihn der Alte zu mehr Details, schließlich hätten sie beide viel Zeit, meinte er. Jürgen erzählte selbst Einzelheiten von seiner lieben Freundin Corinna. Die Augen des Alten glänzten, als er bemerkte „Hach, manchmal lohnt sich das Leben noch wirklich“, dabei klatschte er sich mit der gichtigen Hand auf den dürren Oberschenkel.
Schließlich zeigte ihm Schütz die paar tausend DM, die er in seiner Jackentasche versteckt hatte. „Ein wenig Geld habe ich“, meinte er. „Wenn ich wieder in Berlin bin, kann ich aus einem Schließfach über mehr verfügen. Die großen Scheine aber müssen gewechselt werden, sonst falle ich überall beim Einkaufen auf. Ich weiß auch nicht, wie viel du brauchen wirst?“
Onkel Siegfried hatte nicht einmal nach dem Sinn seines Handelns, nach der Rechtmäßigkeit gefragt. Ihm waren all diese Aktionen so klar und begründet, dass er sich spontan entschlossen hatte, Jürgen zu helfen.
„Weißt du, dass der Bundeskanzler mich seinen Neffen nannte“, scherzte der.
„Du musst für ihn sehr bedeutend gewesen sein“, Onkel Siegfried nickte mit dem Kopf, als bestätigte er sich selbst. „Seine Enttäuschung ist riesengroß. Er wird alles daran setzen, dich zu vernichten. Hast du mit Anita oft über mich gesprochen?“, wechselte er sprunghaft das Thema.
„Es tut
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