Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Toyama aufnehmen, ihn, wenn möglich, aus der Reserve locken. Der Kopf der geheimen Amur-Gesellschaft sollte seine Umtriebe nicht länger im Verborgenen schüren dürfen.
David besaß noch einen weiteren Informanten, um den ihn jeder Auslandsreporter beneidet hätte: den zukünftigen Mikado von Japan. Schon kurz nach ihrer Ankunft in Tokyo waren David und Rebekka in den Kaiserpalast eingeladen worden. Die junge Mrs Murray vermochte vor Aufregung kaum still zu sitzen, als sie in einer leise vor sich hin schnaufenden Limousine durch den Park des Palastbezirks rollten. David konnte sich noch gut entsinnen, wie es ihm ergangen war, als er in einer Pferdekutsche mit seinen Eltern zum ersten Mal durch den Hintereingang in das einhundert Hektar große Areal eingefahren war, das wie eine fremde Welt anmutete, die ganz allein aus Hainen, Gärten, Teichen und Pavillons bestand. Wie damals fand das Treffen in einem verschwiegenen, fast konspirativen Rahmen statt – sowohl David wie auch Hirohito war daran gelegen.
Hito brachte seine Freude über das Wiedersehen zwar nicht so überschwänglich zum Ausdruck wie Yoshi, aber David kannte seinen alten Freund gut genug – nach höfischen Maßstäben war es eine herzzerreißende Szene. Die diskreten Umstände des Zusammenseins machten auch etwas anderes möglich, das bei offiziellen Anlässen undenkbar gewesen wäre: Prinzessin Nagako, die bezaubernde Gemahlin des Prinzregenten, nahm an der Teegesellschaft teil.
David freute sich ganz besonders, sie endlich persönlich kennen zu lernen.
Er wusste noch genau, wie er am 26. Januar des vergangenen Jahres in der Londoner Times über die Hochzeitsfeierlichkeiten im Palastbezirk geschrieben hatte: »Über 700 Personen waren anwesend, darunter alle kaiserlichen Prinzen und Prinzessinnen, alle Hof- und Regierungsbeamten, jeder in der Tracht oder der Uniform seines Ranges.« (Nicht nur Hadden und Luce verstanden es, aus einigen wenigen schriftlichen Notizen vermeintliche Augenzeugenberichte zu verfassen.)
Hito hatte seine kleine Prinzessin also doch bekommen, trotz aller Intrigen Fürst Yamagatas und Mitsuru Toyamas.
»Was nicht heißen soll, dass der Schwarze Drache seine Zähne verloren hat«, erläuterte Hito, nachdem er sein Teeschälchen auf den flachen Tisch zurückgestellt hatte. Er und David waren jetzt allein, weil Nagako und Rebekka miteinander unbedingt noch einige »Frauenangelegenheiten« besprechen wollten.
David suchte in Hitos unbewegter Miene nach weiteren Aufschlüssen. Er glaubte in der Stimme seines Freundes ein unterschwelliges Zittern wahrgenommen zu haben. »Hat er denn schon wieder irgendwo zugeschlagen?«
»Er wäre nicht der Kopf der Amur-Gesellschaft, wenn man das so genau sagen könnte. Mir ist nur aufgefallen, dass sich Fürst Yamagata, nachdem er so heftig gegen die Heirat von Nagako und mir intrigiert hatte, leise auf sein Landhaus zurückzog und starb.«
»Hat er etwa…?«
»Seppuku begangen? Nein. Man hat keine äußerlichen Anzeichen von Gewalt an seiner Leiche gefunden.«
»Wies Fürst Yamagatas Körper sonst irgendwelche Anomalien auf?«
Hito dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Ich glaube, Graf Makino, mein Geheimsiegelbewahrer, hat mir berichtet, Yamagatas Leib sei auf eine eigenartige Weise starr gewesen. Der Rücken war wie in Habachtstellung weit durchgedrückt.«
»Das dachte ich mir«, sagte David leise.
Hito blickte ihn fragend an.
»Bei meinen Eltern und einer Reihe von Freunden und Bekannten war es genauso. Sie wurden alle vom Kreis der Dämmerung umgebracht.«
»Hast du Beweise dafür, David-kun?«
»Nur mein Wort, Hito.«
»So habe ich es nicht gemeint. Ich glaube dir natürlich.«
»Schon gut. Ich vermute, Toyama hat Fürst Yamagata töten lassen, weil er ihm nicht mehr nützen konnte.«
»Die beiden hatten sich sowieso nicht besonders gut verstanden. Als Toyama damals meine Reise nach Europa verhindern wollte, stand Yamagata noch auf meiner Seite. Damals fürchtete ich tatsächlich, die Amur-Gesellschaft könne dem Fürsten nach dem Leben trachten, aber nun…«
»Nun hat Toyama dafür gesorgt, dass man den Drachen nicht beim Schwanz packen kann.«
Hito nickte ernst. »Jetzt weißt du, warum ich dir nie eine positive Nachricht nach Europa oder Amerika schicken konnte. Wie soll man einen Feind fangen, der wie der Wind ist? Du kennst ihn, spürst ihn, fühlst seine Macht, aber du greifst doch nur in die Luft.«
David erklärte seinem Freund, dass er es trotzdem
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