Der Kuss Des Daemons
meines Verstandes sich zu glauben weigerte, dass ich es tatsächlich gesehen hatte. Dass ich gesehen hatte, wie Julien den Mann in den Hals gebissen, sein Blut getrunken und ihm anschließend das Genick gebrochen hatte. Ich umarmte mein Kissen fester. Es passte nicht. Nach allem, was ich wusste, vertrugen diese Kreaturen kein Sonnenlicht. Ich hatte Julien Tag für Tag in der Schule gesehen. Ich hatte heute den halben Nachmittag faul mit ihm am Ufer eines Flusses gelegen. Es passte einfach nicht! Dennoch hatte ich gesehen, was ich gesehen hatte. Ich vergrub den Kopf in den Händen und versuchte mehrere Minuten lang das Chaos in meinen Gedanken zu ordnen. Es gelang mir nicht. Es war wie bei meinem Puzzle, von dem noch zu viele Stücke fehlten. Ich rieb mir übers Gesicht. Es gab nur eine Möglichkeit, auch diese Stücke zusammenzubekommen, ohne dass jemand davon erfuhr und mich für verrückt erklären konnte. Ich nahm mein Kissen mit zum Schreibtisch, schaltete den Computer an und wählte mich ins Internet ein. Für den Suchbegriff »Vampir« war die Zahl der Einträge siebenstellig. Ich übersprang jene Seiten, die Bücher, Filme und Ähnliches zum Inhalt hatten, auf der Suche nach solchen, auf denen es um Vampirmythen und –legenden ging. Nach einigem Suchen hatte ich einige Seiten gefunden, auf denen offenbar seriös über die Phänomene
»Vampir« und »Vampirismus« berichtet wurde.
Sie gaben genau das wieder, was ich aus Gruselfilmen kannte.
Vampire – es gab männliche und weibliche – tranken das Blut von Menschen. Es war ihre einzige Nahrung. Sie gingen im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen, um ihren Durst zu stillen.
Sie waren weitestgehend unsterblich. Was sich wahrscheinlich darauf zurückführen ließ, dass es sich bei ihnen eigentlich um Tote handelte, die zu ihren Lebzeiten von einem anderen Vampir gebissen worden und so ebenfalls zu einem Vampir geworden waren. – Über das konkrete Wie der Vampirentstehung gab es unzählige Theorien.
Sie vertrugen kein Sonnenlicht – die Auswirkungen reichten von »schwersten Verbrennungen« bis hin zu
»verbrennt zu Asche«. Deshalb verließen sie bei Tag ihre Schlafplätze nicht, bei denen es sich gewöhnlich um Särge oder Grüfte handelte.
Tagsüber versanken sie in einen totenstarreähnlichen Zustand, aus dem sie nichts wecken konnte – weshalb der Tag auch die bevorzugte Zeit der Vampirjäger war. Ob es eine absolut sichere Methode gab, einen Vampir zu vernichten, war nicht bekannt. Aber ihnen einen Pflock durchs Herz zu treiben oder sie zu köpfen und ihre
»Leichen« anschließend zu verbrennen, schien das übliche Vorgehen zu sein.
Vampire hatten ungewöhnlich blasse Haut und waren gleichzeitig unglaublich gutaussehend. – So hieß es zumindest in den meisten Fällen. Ein paarmal stieß ich aber auch auf die Behauptung, sie seien halb mumifiziert und wirkten eher wie Greise. Nur wenn sie getrunken hatte, würden sie für kurze Zeit annähernd menschlich erscheinen. Zudem wären ihre überlangen Eckzähne stets zu sehen.
Sie waren stärker und schneller als gewöhnliche Menschen und bewegten sich geschmeidiger.
Irgendwann wiederholten sich die Beschreibungen und ich gab auf. Meine Augen brannten. Müde vergrub ich den Kopf in den Händen.
Blass und unglaublich gut aussehend passte genau auf Julien. Wenn ich an die gefährliche Eleganz dachte, mit der er sich bewegte, und an das, was im Bohemien geschehen war, schien auch die Sache mit »schneller« und
»geschmeidiger« zuzutreffen. Und dann war da, was ich an diesem Abend beobachtet hatte. Julien hatte das Blut dieses Mannes getrunken und ihm anschließend das Genick gebrochen. Mich verwirrte der Umstand, dass dieser Mann ebenfalls ein Vampir gewesen war. Ohne Zweifel: Ich hatte seine Eckzähne ganz dicht vor mir gesehen. In keinem der Artikel hatte etwas darüber gestanden, dass Vampire auch das Blut von ihresgleichen tranken. Aber ich hatte es ganz deutlich gesehen! Ich irrte mich nicht! Ebenso wenig wie ich mich irrte, dass Julien versucht hatte mir meine Erinnerung zu nehmen. Auf einigen der Seiten stand, dass Vampire Menschen und Tiere mit ihrem Willen beeinflussen konnten. Ich zog die Lippe zwischen die Zähne. Ein Teil von mir weigerte sich immer noch zu glauben, dass Julien tatsächlich ein Vampir war, und verwies störrisch darauf, dass ich ihn Tag für Tag hatte durch die Sonne spazieren sehen. Während ich noch versuchte eins und eins gleich drei sein zu lassen, fiel mir
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