Der Kuss Des Daemons
deine Mutter mit Vornamen Isabelle Christine?«, fragte er mich unvermittelt. Ich blinzelte bei diesem jähen Themenwechsel, nickte dann aber.
»Ja. Weshalb?«
Julien rieb sich den Nacken. »Ich habe oben auf dem Dachboden ein Tagebuch gefunden, das von einer Isabelle Christine Warden stammt.«
»Aber meine Eltern haben in New York gewohnt«, wandte ich überrascht ein.
»Ich weiß, deshalb ergibt es eigentlich auch keinen Sinn, sofern es allerdings keine zweite Isabelle Christine Warden gibt ...« Er hob die Schultern. »Es war in einer der Kisten die noch von den Vorbesitzern oben stehen. Als es vorgestern so heftig geregnet hat, ist Wasser durch das Dach getropft und ich musste alles beiseiteschaffen, um wenigstens einen Eimer unterstellen zu können. Dabei ist eine Kiste aufgerissen. Als ich den Inhalt wieder hineingeräumt habe, ist mir ein Tagebuch in die Hände gefallen. - Soll ich es holen?«
Ich nickte. Julien ließ meine Hand mit deutlichem Widerstreben los und ging nach oben. Ein wenig verwirrt sah ich ihm nach. Wie sollte das Tagebuch meiner Mutter hierherkommen? Als Julien Minuten später zurückkam, reichte er mir eine schmale, ungefähr taschenbuchgroße Kladde mit fester Vorder-und Rückseite.
Ich starrte auf das Buch in meinen Händen, während ich zum Sofa hinübertappte und mich setzte. Es war in schweres, vergilbtes Seidenpapier gebunden, das mit japanischen Schriftzeichen und Malereien verziert war. Sie waren verblasst und kaum noch zu erkennen. Behutsam strich ich mit den Fingern darüber. Hatte das hier wirklich meiner Mutter gehört? Julien hatte recht. Wenn es nicht zufälligerweise jemanden mit dem gleichen Namen gab, dann musste es tatsächlich ihr Tagebuch sein. Mit der Fingerspitze fuhr ich die verblichene Kontur eines Reihers nach. Mein Herz klopfte. Würde ich endlich mehr über sie erfahren als das Wenige, was Onkel Samuel mir hatte erzählen können - und über meinen Vater? Ich sah auf. Julien hatte sich im Sessel mir gegenüber niedergelassen und beobachtete mich schweigend. Ich schaute wieder auf das Buch hinab und traute mich kaum es zu öffnen. Als ich es doch tat, rutschte mir als Erstes ein Ultraschallbild entgegen. Zögernd hob ich es auf. Meine Hände bebten. Langsam schlug ich das Tagebuch endgültig auf. Zwischen Deckel und erster Seite war eine Blume gepresst, deren nur noch blassgelbe Blätter an den Rändern schon ausgefranst waren. Auf der Seite selbst prangte eine verschnörkelte »5«, eingefasst in ein Geflecht aus Blütenranken. Darunter standen der Name meiner Mutter, Isabelle Christine Warden, und zwei Jahreszahlen: 1989
und 1990. 1989 hatte sie meinen Vater geheiratet. 1990
war ich geboren worden - und es war das Jahr, in dem sie und mein Vater starben. War dies hier das letzte ihrer Tagebücher? Ich schluckte gegen die Enge in meiner Kehle an und begann es vorsichtig durchzublättern.
Meine Mutter hatte offenbar sehr unregelmäßig Tagebuch geführt. Die Daten der Eintragungen folgten selten direkt aufeinander, meist lagen ein paar Tage dazwischen, manchmal sogar eine ganze Woche oder mehr. Sie hatte hier nur jene Dinge festgehalten, die ihr wirklich etwas bedeuteten. Die Tinte war verblasst und ihre Schrift kaum noch lesbar. Minutenlang versuchte ich es vergeblich, dann bat ich Julien um Hilfe. Er setzte sich neben mich und nahm mir das Buch vorsichtig aus den Händen. Einen Moment blätterte er unschlüssig darin.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte er schließlich und sah mich an. Offenbar bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, die blassen Linien zu entziffern.
Ich beugte mich näher zu ihm, schaute auf die vergilbten Seiten und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Irgendwo.«
Er nickte, schlug erneut einige Blätter um und begann dann halblaut vorzulesen.
23. März 1990 - Alex hat die ganze Zeit nicht geglaubt, dass ich tatsächlich schwanger sein könnte. »Unmöglich«
hat er es genannt. (Er hat nicht einen Moment angenommen, ich konnte ihn betrogen haben, als ich ihm zum ersten Mal von meinem Verdacht, dass wir vielleicht bald zu dritt sind, erzählt habe. - Wie auch. Ich muss bei dem Gedanken selbst fast lachen. Seit wir verheiratet sind, lässt er mich von seinen Männern besser bewachen, als die englischen Kronjuwelen, aus Angst, seine Familie würde vorzeitig von mir erfahren und etwas gegen unsere Verbindung unternehmen.) Aber seit heute kann er es nicht mehr als »unmöglich«
wegdiskutieren. Ich habe den eindeutigen Beweis hier
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