Der Kuss Des Kjer
ihren sieben Befestigungsringen - gewaltige Mauern, höher als zehn Männer, die einander auf den Schultern standen, und selbst an der schmalsten Stelle nicht weniger als acht Schritt breit - erhob sich die Felsenburg von Turas uneinnehmbar vor ihnen gegen den Himmel. Mächtige Türme, auf denen Tag und Nacht Wachen standen, reckten sich hoch über ihnen und schauten weit in das Land hinaus.
Niemand stellte sich den beiden Heerführern und ihren Begleitern in den Weg, als sie über die Bohlen der schweren Zugbrücke ritten, die sich über einen tiefen Wallgraben spannte, und dann dem gepflasterten Weg folgten, der in stetigen Windungen den Festungsberg hinaufführte, vorbei an Fachwerkhäusern mit spitzen Giebeln und schmalen Gassen, in denen sich Kjer neugierig nach ihnen umdrehten, während andere ihrem Tagewerk nachgingen, ohne sich für sie zu interessieren. Jedes Tor der Befestigungsringe wurde durch ein schweres Fallgatter, dessen Eisenspitzen gefährlich über den Köpfen der Reiter schimmerten, und ein massives Holztor, versehen mit Nägeln und eisernen Beschlägen, gesichert. Dann, endlich, passierten sie den letzten Festungsring und ritten in den gepflasterten, weitläufigen Hof der Oberburg. Unfreie rannten herbei, um die Pferde zu halten, die Krieger saßen ab und Mordan half Lijanas aus dem Sattel. Eine wuchtige Treppe führte gegenüber dem Tor zum Palas selbst empor, vor dessen schwerem Portal Wachen postiert waren. Doch es war der mächtige runde Turm, der sich links daneben in den Himmel reckte, der Lijanas' Aufmerksamkeit auf sich zog. Gerade als sie vom Pferd glitt, stieg von seinen Zinnen ein Falke mit einem hellen Schrei in die Höhe. Einen Moment verfolgte sie den Flug des Vogels, dann bemerkte sie die Gestalt, die dort oben stand und auf sie hinabblickte.
Sie berührte Mordan am Arm. »Wer ist das?«
Er sah ebenfalls hinauf. »Königin Naisee. Sie ist verrückt. Sie hat ihr eigenes Kind umgebracht, kaum dass es geboren war. Das war vor dreiundzwanzig Wintern.
Seither lebt sie in den beiden oberen Stockwerken des Turms. « Er klemmte sich das kleine Holzkästchen, in dem sie die Phiole wusste, unter den Arm und schob sie, eine Hand auf ihrem Rücken, sacht vorwärts. »Kommt! Wir werden wahrscheinlich schon erwartet! «
Er führte sie durch das Doppeltor des Palas, durch mehrere Gänge und schier endlose, steile Treppen hinauf. Jerdt und der Kessanan folgten ihnen dicht auf. Wohin Lijanas den Blick auch wandte, alles war grau und seltsam trostlos. Sie schauderte unwillkürlich. Schließlich gelangten sie in einen schmucklosen Raum, in dem Wachen vor einer Doppeltür standen und bewegungslos geradeaus starrten. Jerdt und der Kessanan übergaben Dienern ihre Waffen und schritten ohne Zögern auf die Tür zu, die von den Kriegern für sie geöffnet wurde. Doch als Mordan ihnen vorausgehen wollte, wie es offenbar sein Recht war, verwehrten die Wachen ihm den Eintritt. König Haffrens zweiter Heerführer und der Hohe Meister Arkell jedoch konnten ungehindert passieren. Einen Moment stand Mordan reglos, die Hände zu Fäusten geschlossen, dann wandte er sich schroff ab und trat an eines der hohen Fenster, die den Raum erhellten. Zögernd kam Lijanas neben ihn.
»Was geht da drinnen vor sich?« Sie wagte nicht, laut zu sprechen.
»Wahrscheinlich erstatten die beiden dem König Bericht.«
Bei seinem bitteren Ton sah sie ihn überrascht an.
Mit einem beruhigenden Lächeln schüttelte er den Kopf. »Nichts, was Euch betrifft, Lijanas.«
»Aber Euch. «
»ja! - Seht, da ist der Falke wieder! « Er wies aus dem Fenster. »Ein herrliches Tier.«
Lijanas beugte sich vor - von hier aus hatte man einen ausgezeichneten Blick auf den Turm, in dem die Königin lebte - und stutzte. »Sind das echte Bäume auf dem Turm?«
»Ja. Ein Eiszedernhain. Sie sind sogar im Winter grün. Es heißt, dass es auf der Dachplattform auch einen kleinen Teich gibt. Fragt mich nicht, wie das geht, Lijanas.«
»Verlässt die Königin den Turm manchmal?« Sie beobachtete die schlanke Gestalt, die still am Rand des Haines stand und zu ihnen herüberzuschauen schien.
»Nein! Nie! Sie wird von zwei unfreien Mägden bedient. Nur der König darf zu ihr. «
»Es muss schrecklich sein, immer eingesperrt ... Und das seit dreiundzwanzig Wintern.«
Er hob die Schultern. »Sie ist verrückt, Lijanas. Es ist ... « Die Türen wurden geöffnet und er wandte sich um. Die Wachen gaben ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er
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