Der Kuss des schwarzen Falters: Erotischer Roman (German Edition)
Schließlich gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ging es hier absolut nicht mit rechten Dingen zu – oder sie wurde verrückt und bildete sich Dinge und Menschen ein, die in Wirklichkeit nicht existierten.
Nachdem Erik sich verabschiedet hatte, löschte Xenia das Licht in der Küche, zog die Vorhänge zurück und schaute hinaus in den dunklen Garten. Nichts rührte sich im Schatten der Bäume. Sie öffnete das Fenster und lauschte in die Nacht. Der Wind flüsterte vom Frühling, und Xenia wisperte einen Namen. Plötzlich waren Angst und Unsicherheit verschwunden. Wenn Gabriel in diesem Moment zu ihr gekommen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich nicht einmal gefragt, ob sie ihn sich nur einbildete. Denn sie sehnte sich unendlich nach dem Gefühl, das ihr seine Gegenwart schenkte. Nach der Ruhe, die er verbreitete, und der Sicherheit, die sie in seiner Nähe spürte.
Im Nachbarhaus ging das Licht in einem der nach hinten gelegenen Zimmer an. Sie sah Eriks Silhouette durch den Fensterausschnitt gleiten. Dann wurde es wieder dunkel.
Irgendwann fing sie in der Nachtkühle an zu frösteln. Sie schloss das Küchenfenster, zog die Vorhänge zu, holte den Handkoffer mit den Briefen aus dem Wohnzimmer und stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf.
Hamburg, den 31. Dezember 1911
Meine Liebste,
ein Jahr geht zu Ende, in dem ich bisher nicht gewagt habe, Dir zu schreiben, obwohl ich wusste, dass Du ebenso allein bist wie ich. Allein in Deinem Bett, allein in Deinem Haus und in Deinem Leben. Du gibst mir die Schuld daran, dass Dein Mann nicht mehr bei Dir ist. Noch einmal schwöre ich Dir bei allem, was mir heilig ist, bei meinem Leben und meiner Liebe zu Dir, dass ich Achim niemals den Tod gewünscht habe! Er war mein Freund. Obwohl er das besaß, was ich mir mehr als alles auf der Welt wünsche, nämlich ein Leben mit Dir, war er mir wichtig und kostbar. Auch mich schmerzt es bis in meine tiefste Seele, ihn verloren zu haben.
Doch ebenso sehr tut es mir weh, was Du mir wohl mit dem Päckchen sagen willst, das ich heute Morgen erhielt. Du hast jeden einzelnen Brief aufbewahrt, den ich Dir jemals geschrieben habe – und mir auf alle geantwortet, wenn ich diese Antworten bis heute auch nie erhielt. Und nun sendest Du mir meine Briefe und alle Deine Antworten darauf. Deine Worte sind voll Gefühl und Sehnsucht. Sie sagen mir, dass auch ich Dir all die Jahre nicht gleichgültig war. Du warst Deinem Mann treu und bliebst bei ihm, denn Du hattest ihm Liebe bis in den Tod geschworen. Wären wir uns begegnet, bevor Du Dich ihm versprachst, hätte es für uns eine Chance gegeben.
Doch nun hast Du mir die Briefe geschickt, meine und Deine, weil Du glaubst, ich trüge die Schuld an Achims Tod. Damit tötest Du jede Hoffnung in mir und bohrst mir einen Pfeil mitten durchs Herz. Ich wünschte, dieser nimmermüde Muskel würde aufhören zu schlagen, denn auch wenn es nun nicht mehr den kleinsten Funken Hoffnung gibt, werde ich doch niemals aufhören können, Dich zu lieben.
In unverbrüchlicher Liebe,
auf immer der Deine,
Gabriel
Xenia ließ den Briefbogen sinken, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und wühlte dann hektisch zwischen den Briefumschlägen in dem kleinen Koffer, der offen neben ihr auf dem Bett stand.
Ruprecht, der zusammengerollt am Fußende gelegen hatte, fühlte sich offenbar von ihren Bewegungen gestört. Er sprang auf den Boden und ließ sich auf der Kommode am anderen Ende des Zimmers nieder, um sie aus sicherer Entfernung zu beobachten.
»Wo sind Katharinas Briefe?«, murmelte Xenia. »Warum hat er sie nicht zusammen mit seinen aufbewahrt?«
Als wüsste der Kater die Antwort, mauzte er leise.
Da Katharinas Briefe nicht im Koffer waren, musste Gabriel sie irgendwo anders verwahrt haben. Xenia öffnete die Schublade des Nachtschränkchens, doch darin lagen sie natürlich nicht. Das Haus war viele Jahre von anderen Menschen bewohnt gewesen. Wahrscheinlich gab es diese Briefe schon lange nicht mehr.
Nachdenklich starrte Xenia beim Licht der kleinen Leselampe gegen die Decke. Dann schwang sie die Beine über den Bettrand, stand auf, schlüpfte in ihren Bademantel und stieg die Treppe hinunter. In ihrem Atelier zog sie unter dem Skizzenbuch den schlichten Schreibblock hervor, den sie für Notizen verwendete. Leider besaß sie kein edles Büttenpapier. Aber sie hatte einen teuren Füllfederhalter, den ihre Patentante ihr zum Abitur geschenkt hatte. Damit und mit dem Block setzte sie sich an
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