Der Lange Weg Des Lukas B.
sinken.
»Was hast du für einen sehr guten Bekannten in St. Louis, Luke?«, fragte er.
Der Junge zuckte die Achseln. Wenn es sein Vater war, der ihn grüßen ließ, warum schrieb er nicht selbst? Warum verschwieg er seinen Namen? Die anderen vergaßen bald den Gruß an den Jungen, denn Franek hatte Briefe mitgebracht, die aus Liebenberg nach Vicksburg gekommen waren. Nur Döblin bekam keine Post. Er hatte niemanden mehr, der ihm schrieb. Der Junge hatte einen Brief von seiner Mutter. Sie schrieb davon, dass die Ernte wahrscheinlich ganz ordentlich ausfallen werde und obwohl die Männer in den Krieg gezogen seien, hofften sie alles gut in die Scheunen zu bringen. Ihr jüngster Bruder habe auch nach Frankreich ziehen müssen. Sie schrieb auch, dass in ihrem Laden ein schlechter Pächter säße, der alles herunterwirtschaftete. Es gehe schon das Gerücht um, Haus und Laden stünden bald wieder zum Verkauf an.
»Wenn du eine Goldader entdeckst, Junge«, schrieb die Mutter im Scherz, »dann könnte ich mir den Laden wieder zurückkaufen.«
Auch Katinka und Anna hatten einen langen Brief geschrieben. Es sei nichts mehr los im Dorf. Es werde Zeit, dass die Männer aus Amerika und aus dem Krieg bald wieder zurückkämen.
Dann war da noch ein kleiner Umschlag ohne Absender. Ein winziges Zettelchen lag darin. Oben in der Ecke des Papiers war ein gepresstes Gänseblümchen aufgeklebt. »Denkst du noch daran, was du mir versprochen hast? Ich denke oft daran. Deine Lisa W.« Und obwohl dies der kürzeste Brief war, den der Junge bekommen hatte, freute er sich doch ganz toll darüber.
An diesem Abend sagte Mathilde dem Lehrer, dass sie auch ein Kind erwarte und dass es ihrer Rechnung nach im Mai zur Welt kommen müsse. Als der alte Mann es erfuhr, freute er sich sehr, lief in den Laden des Ortes und kaufte für Mathilde ein Halstuch aus roter Seide.
»Wer ist eigentlich der Vater des Kindes?«, scherzte der Lehrer.
Franek blieb ein paar Tage, arbeitete aus Spaß am Bau mit und nahm ein ganzes Bündel Briefe mit zurück, weil alle annahmen, dass die Post mit dem Dampfer von Vicksburg aus schneller den Weg nach Europa laufe. Der Junge hatte einen Umschlag an Bruno Warich adressiert und sich für die Grüße bedankt. Für den, der ihm die Grüße geschickt hatte, hatte er ein Blatt dazugelegt.
»Wenn du der bist, den ich suche, dann komm nach Alice-Springs und male hier die Kirche aus. Sie wird im Januar fertig sein. Dein Luke.«
Später hatte er dann noch daruntergesetzt: »PS: Ich glaube, Großvater hätte das auch sehr gern.«
Es kamen in den folgenden Wochen noch Briefe aus Liebenberg und einer von Franek, der wieder gut in Vicksburg angekommen war. Aber aus St. Louis hörten sie nichts mehr.
Wieder hatte die Mutter dem Jungen geschrieben. Fast jeder Mann sei im Kriege gewesen, schrieb sie. Oft hätten sie Siege feiern können. Aber sie selbst hätte bei den Feiern immer an ihren jüngsten Bruder denken müssen, der am 2. September 1870 bei Sedan gefallen sei. Sicher, die deutschen Truppen hätten an diesem Tage eine große Schlacht gewonnen und sogar den Franzosenkaiser gefangen genommen. Aber sie kenne den Franzosenkaiser nicht, während sie ihren Lieblingsbruder besser gekannt habe als jeden anderen Menschen, ihren Jungen ausgenommen. Auch schrieb sie, dass Laden und Haus in Leschinen, wie sie schon vorausgesehen habe, tatsächlich zu einem Spottpreis zum Verkauf anstünden. Aber weil unter dem Pächter alles jämmerlich verkommen sei, finde sich kein Käufer.
Der Junge sah das lang gestreckte, niedrige Haus genau vor sich, die gestutzten Linden vor den Fenstern, die grünen Läden, den Lagerschuppen, den weitläufigen Stall, in dem seines Wissens in den letzten Jahren nie ein Stück Vieh gestanden hatte.
Man könnte ein Fuhrgeschäft aufmachen und einen Viehhandel dazu. Platz ist jedenfalls genug, dachte der Junge.
Am Dreikönigstag war Kirchweih in Alice-Springs. Zum ersten Male läuteten die beiden kleinen Glocken wieder. Sie hatten sie unzerstört aus dem Schutt ausgegraben. Die Zimmerleute erhielten einen guten Lohn. Der alte Mann begann an die Rückreise zu denken. Er hatte gehört, dass man mit der Eisenbahn in wenigen Tagen von Memphis bis New York fahren konnte und dass von dort aus eine regelmäßig verkehrende Dampfschifflinie nach Hamburg und Bremerhaven eingerichtet worden war. Einen Auftrag wie die Kirche in Alice-Springs, dachte er oft, den würde ich vielleicht noch annehmen. Dann hätte ich
Weitere Kostenlose Bücher