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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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zu. Was am Vortag geschehen ist, zählt nicht mehr.
    Heute Nacht, wenn der große Sohn eingeschlafen ist und der kleine mit weit aufgerissenen Augen und ins Laken gekrallten Händen im Bett liegt, wird sie sich zu ihrem Mann legen und versuchen, mit ihm zu schlafen.
    »Zwei Erwachsene, zwei Kinder«, verlangt der Ehemann von der jungen Frau hinter der Glasscheibe. Sie händigt ihm vier Eintrittskarten aus und wirft verzückte Blicke auf den Kleinen, der mit dem Rücken zu ihr an der Schulter seines Vaters hängt. Mit einer automatischen Geste zieht der Mann ihn höher, etwa so wie eine Frau ihre Schultertasche zurechtrückt. Die Ehefrau blickt auf seine Hände und schaut noch einmal hin, während sie den Kleinen schütteln, versuchen, ihn zum Weinen, zum Schreien zu bringen, und es nicht schaffen.
    »Gehen wir hinein«, sagt er, aber sie müssen warten, sich hinter eine Gruppe von Fremden einreihen, die schwatzend am Eingang stehen.
    »Gefällt's dir?«
    Der große Sohn nickt mit dem Kopf. Die Mutter tippt ihm auf die Schulter: Es ist nicht in Ordnung, wenn er schweigt.
    »Ja«, antwortet er mit lauter Stimme, lustlos. Obwohl er vorerst weder das Wort noch seine Bedeutung kennt, ahnt er allmählich, dass es sein weiteres Leben lang nicht darum gehen wird, Dinge zu tun , sondern darum, sie zu kompensieren .
    »Gleich werden wir alle Fische der Welt sehen«, sagt die Mutter.
    »Welche Fische?«, fragt er.
    »Alle Fische.« Der Sohn rennt zur Information und schnappt sich ein Faltblatt über das Aquarium. Alle gibt es hier nicht, aber doch fast alle: tropische Fische, Teufelsfische, Haifische. Die Führerin gibt ein Zeichen, und der Rundgang beginnt.
    Das Aquarium ist riesig. Die durchsichtigen Wände dienen dazu, dass man die Tiere aufmerksam beobachten kann: Ein Kratzer im Glas würde genügen, um das Wasser auslaufen zu lassen, auf einen Schlag Fische und Menschen zu töten. Deshalb muss man in der Mitte des Gangs bleiben und darf die Glasscheiben nicht berühren.
    »Man kommt sich vor wie im Unterseeboot von Kapitän Nemo«, sagt der Vater. Der große Sohn zuckt mit den Schultern. Der Film war nichts Besonderes.
    Die Mutter nimmt ihn bei der Hand und geht zu ihrem Mann.
    »Es ist wie in einem Zeichentrickfilm von Disney, meint ihr nicht?«
    Der ältere Sohn schaut zu, wie der Bruder von der Schulter genommen, von der starken Hand des Vaters über den Fußboden gezerrt wird.
    »Wenn ihr an ein Aquarium denkt, fallen euch Fische ein«, sagt jetzt die Führerin. »Aber hier in Genua haben wir auch andere Gäste.«
    Die Gruppe folgt ihr in einen Raum mit blauem Fußboden: wieder Glaswände, wieder Becken, diesmal mit weniger Wasser und mehr Sand.
    »Hier stehen wir nun vor den Lebewesen der Erde, die mit Abstand am längsten leben«, erklärt die Führerin. Dann wendet sie sich mit anbiedernder Stimme an den großen Sohn. »Weißt du, was das bedeutet?«
    Er beobachtet die Schildkröten, die sich auf dem Bauch dahinschleppen, ständig den Kopf von einer Seite zur anderen wenden, den Mund öffnen und schließen, sich sonst nicht bewegen.
    »Dass sie krank sind«, sagt er.
    Die Leute feixen. Höhnisch. Sofort legt ihm die Mutter die Hände auf die Schultern.
    »Es bedeutet, dass sie sehr lange leben können: Jahre und Jahre und Jahre«, verbessert ihn die Führerin. Es interessiert sie nicht, dass er gar nicht zuhört.
    Die Hände der Mutter schützen ihn und halten ihn fest: Er kann nicht wegrennen. Er beschließt, von jetzt an nur noch vor sich hin zu laufen und auf den Boden zu schauen, was er wohl auch durchgehalten hätte, wenn er nicht blockiert worden wäre.
    Der Kleine ist stehen geblieben und geht keinen Schritt weiter. Der Vater nimmt ihn an die Hand, ohne ihn zu zwingen, und der große Sohn findet es komisch, dass sich dieser Erwachsene von einem fünfjährigen Kind aufhalten lässt. Noch dazu von einem kranken Kind.
    Die übrigen Teilnehmer der Führung sind mittlerweile weitergegangen. Sie verteilen sich in den Gängen, um nach dem geeignetsten Objekt für Erinnerungsfotos zu suchen.
    »Was ist los?«, fragt die Mutter.
    Der Vater antwortet nicht. Er betrachtet den Kleinen wie etwas, das sich plötzlich in seiner Hand befindet, ohne dass er sich erinnern kann, woher er es hat.
    Auf der anderen Seite der Glasscheibe inmitten von Felsbrocken, Gräsern, Erdreich, einem Gemisch aus Naturmaterialien und künstlichem Zeug sind dicke Eidechsen zu sehen mit Kugelaugen und dem gezackten Kamm, der sich in vielen

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