Der letzte Agent
dauernd Angst und weiß nicht, vor wem oder was. Irgendwie, na ja, also ich denke, ich bin nirgendwo mehr zu Hause, seit die Sache mit diesem Volker passiert ist.«
Sie rannte ins Haus und hockte sich zu Anni, die vor dem Fernseher saß und irgendeinem sehr klug aussehenden Mann zuhörte, der sich leidenschaftslos darüber verbreitete, warum die Regierung nun endlich in die neue deutsche Hauptstadt Berlin umzuziehen habe.
»Anni«, sagte Clara ganz aufgeregt. »Stell dir vor, Baumeister denkt, dass Schulze wahrscheinlich auch zu mir wollte. Und irgendwie ist er unterwegs verlorengegangen.«
»Das habe ich auch schon gedacht«, sagte Anni und sah mich an.
Ich verzog mich und rief Alfred an. »Ich brauche heute nacht dein Auto. Und wenn möglich, weißt du nichts davon.«
In der Eifel verleiht man Autos höchst ungern und selten. Aber er sagte ohne zu zögern: »Steht in der Garage, Schlüssel ist drin.«
»Du bist ein Schätzchen.«
»Mir ist es lieber, du bringst ihn heil zurück.«
Anni kam und fragte, ob ich etwas essen wollte. Sie fragte eigentlich dauernd danach, und wahrscheinlich würde ich eine furchtbare Wampe haben, wenn sie hier vier Wochen blieb.
Ich sagte: »Nein, danke. Ich gehe überlegen.«
»Wo passiert das?«
»Im Steinbruch. Ich gehe immer in den Steinbruch, wenn ich überlege.«
»Du hast etwas vor, nicht wahr?«
»Natürlich, ich will überlegen.«
»Glaubst du an eine Spionagegeschichte?«
»Ich weiß nicht genau. Vieles deutet darauf hin.«
Sie schnaufte und nickte. »Ich bin ja nur eine Kriminalbeamtin. Kannst du mir erklären, was das für eine Sorte Spionage sein kann?«
»Gute Frage. Keine Spionage im Sinn irgendwelcher kriegstechnischen Dinge. Es geht nicht um Raketen, Panzer, Flugzeuge. Es geht um Wirtschaftsprodukte. Also zum Beispiel um lächerliche Plastikteile, die irgendjemand besonders kostengünstig herstellt, um sie an irgendeinen anderen besonders billig zu liefern. Wenn du weißt, auf welche Weise man sie herstellt, hast du die Hälfte des Erfolgs. Wenn du weißt, an wen sie auf der Welt zu welchen Bedingungen geliefert werden, hast du das ganze Geheimnis. Du brauchst bloß hinzugehen und dasselbe Stückchen Plastik einen Pfennig billiger anzubieten.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie ziemlich verwirrt.
»Ein Beispiel: Nissan braucht für das Armaturenbrett seiner Autos einen ganz bestimmten Hebel, um die Scheinwerfer der Autos an- und auszustellen. Nehmen wir an, dieser Hebel kostet beim Hersteller dreißig Pfennig. Es ist eine bestimmte Plastiksorte von ganz bestimmten Eigenschaften. Du brauchst Spezialmaschinen, um ihn herzustellen. Zuerst besorgst du dir ein Exemplar dieser Maschine, das heißt, du stiehlst entweder eine komplette Maschine, oder aber du stiehlst die Konstruktionszeichnungen. Dann brauchst du das Plastikmaterial. Du stiehlst davon ein paar Kilo, oder aber du stiehlst gleich das Rezept. Dann stellst du diesen Hebel her und sagst den Leuten von Nissan: ›Ich kann das Hebelchen für fünfundzwanzig Pfennig liefern.‹ Nissan braucht pro Jahr von diesem Ding etwa sechs Millionen Stück. Damit nicht genug, stiehlst du alle Herstellungsanleitungen von Plastikteilen für Nissan, die aus demselben Material mit derselben Maschine hergestellt werden können. Davon braucht Nissan insgesamt pro Jahr vielleicht sechzig Millionen. Fängst du an zu verstehen?«
»Es geht um Millionen Mark, nicht wahr?«
»Um Millionen Dollar, liebe Anni. Aber wir wissen nicht, ob es in unserem Fall so ist. Wir wissen noch gar nichts.«
»Dann geh überlegen«, sagte sie. »Da kann ich dir nicht helfen.«
Ich ging hinauf zu Clara, die sich auf ihr Bett gehockt hatte und eine Zigarette rauchte. »Störe ich euch nicht? Ich meine, ich kann doch auch wieder nach Hause gehen.« Sie war unsicher.
»Du bleibst hier. Und nach Hause kannst du nicht, das wäre zu riskant. Sag mal, wie sieht der Günther Schulze eigentlich aus?«
»Mittelgroß, so um die einhundertfünfundsiebzig Zentimeter, würde ich sagen. Ein heller Typ. Sein Haar ist so hellblond, dass wir alle den Verdacht hatten, er würde es färben. Aber es ist Natur. Schlank ist er. Aber wieso sage ich das? Ich habe noch ein Bild vom letzten Betriebsausflug.« Sie holte eine Brieftasche aus einem Lederbeutel und suchte ein wenig darin herum. »Wir waren in Rothenburg ob der Tauber. Das da rechts außen ist Günther.« Günther Schulze lachte in die Kamera. Er schien ein ausgesprochen sympathischer Typ zu sein,
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