Der letzte Drachenlord - Hatfield, M: Der letzte Drachenlord
Finsteren Krieges lesen zu müssen, studierte er jede Zeile äußerst gründlich. Schließlich musste er, wenn er die Herrschaft antreten und eines Tages den männlichen Wesen seiner Art ihre Ehre und Würde wiederbeschaffen wollte, genauestens darüber Bescheid wissen, woran der Fürst gescheitert war.
Möglichst bedächtig, um das uralte und anfällige Pergament nicht zu zerstören, blätterte er zum allerletzten Eintrag um. Dies lesen zu müssen verabscheute er am meisten. Anders als alle anderen Einträge, die in ihrer Präzision höchst eloquent waren, schien diese letzte Seite von einem Wahnsinnigen verfasst worden zu sein. Mitunter stellte selbst Lotharus seine Echtheit infrage. Er konnte nicht anders, als die Möglichkeit zu bezweifeln, dass diese letzten Worte demselben genialen Hirn entsprungen sein sollten, das einmal ihren Stamm begründet hatte.
Lotharus stieß ein angewidertes Schnauben aus. Dieser Unglaube, das war der schwächste Teil von ihm, der da seine Stimme erhob. Jene Stimme, die irgendwo in seinem Hinterkopf ständig Zweifel säte und die Frage stellte, wie er je auf Erfolg hoffen könnte, wenn doch der Fürst der Finsternis selbst versagt hatte. Jene Stimme, die daran erinnerte, dass der gegenwärtige Zustand zwar nicht gerade erstrebenswert war, aber immer noch besserals der Untergang. Oder etwa nicht? War sein Leben nicht viel großartiger verlaufen als das aller seiner Vorfahren? Waren seine Stellung, sein Ruf und erst recht sein alltägliches Leben nicht hundertmal besser als das von dem Großteil seiner männlichen Artgenossen? Hatte sich das Leben im Verborgenen, wo er sämtliche Macht in seinen Händen hielt, aber für nichts die Verantwortung übernehmen musste, nicht für ihn ausgezahlt?
Wie schon so oft erlaubte Lotharus dieser zynischen Stimme in seinem Innern, ihren Gedankengang zu Ende zu führen. Ließ seinen Verstand die verschiedenen Möglichkeiten in Betracht ziehen, die die kommenden Tage bereithalten mochten, wenn er beschließen sollte, seinen sorgfältig ausgearbeiteten Plan aufzugeben. Aber wie immer kam er doch wieder zum selben Ergebnis.
Für Lotharus war schon die bloße Vorstellung, Alexias Befehle befolgen zu müssen, sie als Königin und Anführerin dieser Horde akzeptieren zu müssen, noch verabscheuungswürdiger als der Tod. Dem musste selbst jener Teil von ihm, der ständig Zweifel äußerte, zustimmen.
Er verzog die Lippen und knallte die Handfläche auf diese letzte Seite, die er am liebsten vor Wut zerknüllt hätte. Die Tatsache, dass die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet wurde, hielt ihn davon ab. Lotharus blickte auf. Die Königin schwebte herein, ihr langes schwarzes Haar umgab sie wie ein Schleier und ihr purpurrotes Gewand blähte sich um ihren Körper. Er musste weder seine jahrhundertelange Erfahrung noch seinen Intellekt zurate ziehen, um sofort den Missmut und den Zorn zu bemerken, der ihr in ihr schönes Gesicht geschrieben stand. Und auch nicht, um aus dem gesunden Leuchten ihrer Augen zu schließen, dass sie schon seit Längerem jenes sorgfältig zusammengemischte Gebräu nicht mehr zu sich genommen hatte, das er ihr verabreichte, um sie ruhigzustellen.
„Catija.“ Lotharus ließ das Buch in einer Schublade verschwinden und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. „Liebling, du wirkst ja völlig ausgehungert. Hast du etwas zu dir genommen?“
„Wo ist meine Tochter?“
Er hob die Brauen. Er war noch nicht einmal ganz auf die Füße gekommen, da wollte sie schon was von ihm. „Pardon?“
„Du hast mich ganz genau verstanden, Lotharus. Wo ist Alexia?“
„Nun, draußen in der Schlacht, könnte ich mir vorstellen“, meinte er mit dem unbekümmertsten Lächeln. Aber in seinem Kopf rasten die verschiedensten Möglichkeiten und Szenarien durcheinander.
Die Königin musterte ihn skeptisch und hob das Kinn. „Ich wünsche sie zu sehen. Und zwar sofort.“
„Warum die Beunruhigung, meine Liebe?“ Er eilte an ihre Seite. „Ich bin sicher, sie ist gerade mit dem beschäftigt, was sie am besten kann.“
„Mit dem, was du ihr beigebracht hast, meinst du.“
Groll und Verbitterung stiegen aus irgendeinem Abgrund seines Wesens auf. Selbstverständlich setzte er unermüdlich alles daran, diesen Ort der Finsternis vor der Königin zu verbergen, damit sein Plan – jene mit größter Sorgfalt ausgearbeitete Maskerade, auf die sie bisher hereingefallen war – nicht zusammenbrach. Dann hätte er versagt.
Das durfte er nicht
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