Der letzte Karpatenwolf
wird.
Als sie sahen, daß Vera Mocanu im Zug fehlte, atmeten sie etwas auf. Wenn sie geflüchtet ist – gut! Wenn sie umgekommen ist – besser, dachten sie rauh. Wo kein Zeuge ist, kann auch keine Anklage sein. Und doch blieb ein drückendes Gefühl zurück. Wußte man, was mit den deutschen Soldaten im Gefangenenlager Focsani geschah? Es wurde soviel geredet … die das Lager bewachten, waren russische Soldaten. Mongolen und Kirgisen … Menschen, die man früher nur in dem Zirkus sah, der die großen Städte jedes Jahr besuchte.
In der Nacht – die drei deutschen Soldaten waren mit einem Jeep nach Bacau gefahren worden – erfuhren die Bauern die Wahrheit.
Vera Mocanu schlich wieder von Haus zu Haus und sammelte neue Lebensmittel, einen dicken Schal für Michael und Verbandszeug und Salbe von Georghe Brinse.
»Wo wollt ihr denn hin?« fragte der alte Arzt und packte Mull, Salbentöpfchen und zwei elastische Binden zusammen und rollte alles in ein wasserdichtes Ölpapier. »Warum rennt ihr in den Karpaten herum? Es ist doch sinnlos! Bald ist der Krieg zu Ende. Sieh deine drei Kameraden an – für sie ist der Krieg zu Ende. Aber was ihr da macht, ist Irrsinn! Ihr kommt nie nach Westen durch. Wenn du die Karte von Europa kennst …«
»Ich kenne sie. Wir wollen in die Vrancei-Berge!«
»Und dann? Bei den ›Legionären‹ leben, was? Dort werdet ihr bestimmt erschossen, wenn man euch erwischt.«
»Was sollen wir anderes tun? Wenn Frieden ist, werden wir aus den Bergen zurückkommen! Uns gefangennehmen lassen? Weißt du, wem wir in die Hände fallen?«
»Im Leben weiß man nie etwas voraus.«
»Und dieses Risiko gehe ich nicht ein.«
So und ähnlich sprach Vera Mocanu mit allen Bauern. Sie sammelte viel in dieser Nacht, die die letzte in Tanescu war. Nicht nur Brot und Fleisch und Wurst und Käse … auch warme wollene Unterwäsche bekam sie, dicke, handgestrickte Schafswollstrümpfe, zwei Pelzmützen, Fellhandschuhe und sogar Filzstiefel für Michael, zwei Nummern zu groß, damit er seine Verbände in ihnen tragen konnte.
Auf dem Rückweg in die Berge, der sie an dem Haus der Patrascus vorbeiführte, traf sie auf Sonja.
Sie war aufgewacht, ohne sagen zu können, warum sie plötzlich nicht mehr schlafen konnte. Sie hatte nicht geträumt, aber es war ihr im Schlaf gewesen, als habe sie jemand an der Schulter gerüttelt. Da war sie hochgefahren und hatte nach dem Pelz gegriffen, der neben ihrem Holzbett lag. Sie ging hinaus in die kalte Winternacht und sah dort den vorbeihuschenden Schatten Veras.
»Du!« rief sie leise. »Du …«
Der Schatten blieb ruckartig stehen. Dann glitt er näher. Als sie sich gegenüberstanden, musterten sie sich kritisch, stumm, sich wie zwei Gegner abtastend.
»Du bist bei ihm?« fragte Sonja leise. Sie fror und zog den Pelz fester um ihren Körper.
Vera Mocanu nickte. »Ja.«
»Bring ihm einen Gruß mit!«
»Du kennst ihn?«
»Nur wenige Minuten. Er lag im Gras und hatte wunde Füße. Er sah so traurig aus. Das habe ich nicht vergessen.«
»Ich werde es ihm sagen. Wie heißt du?«
»Sonja.« Sie sah Vera aus großen, fragenden Augen an. »Und wie heißt er?«
»Michael«, sagte Vera widerwillig. Sie wußte selbst nicht, woher ihre innere Abwehr kam.
»Mihai …«, sagte Sonja leise.
»Nein! Michael!« rief Vera lauter, als sie wollte. »Er ist ein Deutscher – merk dir das!«
Sie ließ Sonja im Schnee stehen und rannte zurück in die Nacht und den schwarzen Bergen zu, die wie eine bis zum Himmel reichende Mauer vor Tanescu standen.
»Sie liebt ihn.« Sonja strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Da spürte sie, daß sie geschwitzt hatte und daß der Schweiß jetzt zu kleinen Kristallen gefroren war. »Sie liebt ihn wirklich!«
Es war Traurigkeit in ihrer Stimme. Aber sie merkte es nicht.
Drei Wochen zogen sie wieder durch den Schnee, wie Füchse, die durch Gebüsche und Schluchten schnüren.
Die Füße Michaels waren wieder aufgebrochen … Vera wusch sie, strich die grüne Salbe Dr. Brinses auf das eiternde, an manchen Stellen brandrote Fleisch und verband sie. Dann zog sie ihm die weiten Filzstiefel über … und weiter ging die Flucht … Tag um Tag … nach Süden dieses Mal, in die Vrancei-Berge … zweiundzwanzig Tage lang über Felsgrate und durch sturmgeknickte Bergwälder, an russischen Posten vorbei, rumänischen Milizstationen oder gemischten Streifen, die manchmal in Kompaniestärke die Gebiete in der Nähe der Dörfer
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