Der letzte Karpatenwolf
will sehen, ob wir über die Straße können. Vor uns muß eine Straße sein, wenn wir uns nicht verlaufen haben.«
»Sei vorsichtig, Vera«, sagte Michael leise. Er streichelte über ihr Gesicht. »Es ist so schön, daß wir zusammenbleiben …«
Vera Mocanu nickte. Sie legte alles ab, was sie bei sich trug, und küßte Michael auf den Mund. Dann glitt sie in der fahlen Morgendämmerung davon, wie ein Wiesel, schnell, geschmeidig, lautlos.
Bis zum Mittag wartete Michael auf Vera Mocanu.
Er saß auf dem Stein, die Sachen Veras vor sich, und starrte bleich in die Richtung, in der sie verschwunden war.
Er wartete den ganzen Tag … er wartete die ganze folgende Nacht.
Als der zweite Morgen dämmerte und der Himmel fahlgraue Streifen bekam, wußte er, daß Vera Mocanu nicht wiederkam.
Sie hatte ihn verlassen. Sie war zurück ins Lager gegangen.
Nachdem er gerettet war, ging sie zurück zu den menschlichen Wölfen, weil sie glaubte, zu ihnen zu gehören.
Da weinte Michael, und er wünschte sich, in diesem Weinen zu sterben, wie er in seinem ersten Kuß sterben wollte.
Aber das Leben ging weiter, und der Trieb, es nicht wegzuwerfen.
Als die Sonne durchbrach durch die schneeschweren Wolken, verkroch er sich im dichten Gebüsch.
Über die Straße im Tal ratterte eine sowjetische Panzerkolonne.
Für Stepan Mormeth, den Miliz-Zigeuner, waren aufregende und merkwürdige Wochen vorbeigegangen.
In Bacau, wohin die Miliztruppe von Tanescu zunächst beordert wurde, erwartete ihn ein Donnerwetter des Hauptmanns und die Strafversetzung der ganzen Gruppe in ein Felsennest des Petricia-Gebirges. Dort wurden sie vier Wochen lang nach preußischem Muster geschliffen, lagen mehr auf der Erde, als daß sie standen oder gingen, und die hauptsächlichste Fortbewegungsart war Kriechen, bei dem Pfützen oder Schlammgräben nicht zu umgehen, sondern in gerader Richtung zu überwinden waren.
Zwischendurch halfen sie beim Straßenbau mit, schleppten schwere Steine für den Unterbau, bis die Schulterhaut blutig gescheuert war. Man klebte ihnen große Pflaster auf den Rücken und die Schultern und schickte sie dann zu einer zweiwöchigen politischen Schulung nach Galati im Süden. Dort erzählten ihnen drei russische Kommissare, wie schön es in Rumänien sei, seit die Sowjets es von dem Joch der Könige und bourgeoisen Minister befreit hätten. Anschließend lernten sie Text und Melodie der ›Internationale‹ und eines Liedes zur Verherrlichung Stalins.
Dann exerzierten sie wieder, allerdings nach russischen Kommandos und unter Leitung eines sowjetischen Leutnants, der alle falschen Bewegungen und Griffe schlechtweg ›Sabotage‹ nannte und mit Erschießen drohte.
Nach sechzehn Wochen erfolgte dann eine Inspektion und Prüfung durch einen russischen Oberst. Stepan Mormeth bestand sie mit Glanz. Er wurde zum Gefreiten befördert, erhielt das Zeugnis eines guten Kommunisten und kam – das Wunder begriff keiner der Gruppe – mitsamt seiner alten Mannschaft zurück nach Tanescu.
Es war Frühling geworden. Ostern war nicht mehr weit, die Wiesen begannen zu blühen, obwohl in den höheren Lagen noch Schnee die Berge und Almen bedeckte und in den Schluchten die Winterkälte sich hielt, als sei sie konserviert von den eng herangerückten Felswänden. Die Wölfe schnürten noch hungrig durch die Karpaten, rissen die Lämmer, die auf die ersten schneefreien Talwiesen hinausgetrieben wurden, und strichen des Nachts noch immer in der Nähe der Dörfer herum, heiser heulend, hungernd, gnadenlos gejagt und jagend.
In der Kirche rüstete man sich für das Osterfest. Der alte Pope und drei junge Burschen putzten die goldenen Kreuze und die Rahmen der Ikone. Auf dem Dorfplatz und entlang der Dorfstraße wurden Buden aufgebaut. Fahrende Händler und Zigeuner mit handgedrehten Kettenkarussells kamen aus der Stadt, Verkaufsstände für Wein und Eis, Limonade und Backwaren bildeten eine weite Runde um den Platz, auf dem die Volkstänze der Jugend stattfinden sollten. Ein Zigeuner mit einem langen schwarzen Bart erschien in Tanescu. Er hatte einen großen, braunschwarzen Tanzbären bei sich. An einer Kette, die in einem Ring, der die Nase des Bären durchzog, befestigt war, zog er das mächtige Tier hinter sich her.
In den Häusern wurden die alten Festtrachten hervorgeholt und nachgesehen. Das weite, knielange Festhemd der Männer, das zum Handgelenk hin sich erweiternde Ärmel hatte und dessen Schultern, Ärmelkanten und Saum reich mit
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