Der letzte Karpatenwolf
einen kleinen Spiegel … und Brot, Wein und Wurst. Jetzt kam sie näher, setzte sich neben Michael auf das Bett und starrte bleich und ängstlich auf die verbundene Schulter. Blut drang durch den Verband … rote Flecken sickerten durch den Mull.
»Wir müssen ihn wecken, Onkel Georghe.«
Der alte Arzt nickte. Er strich mit der Hand über das stoppelige Gesicht Michaels. Es war wie ein Streicheln: Bitte, bitte, wach auf, mein Junge …
Michael öffnete die Augen. Er sah in das von dem Licht der Öllampe überflimmerte Gesicht Sonjas. Sie lächelte ihn an. Die langen, schwarzen Haare hingen an ihren Schläfen herunter bis auf seine Brust. Wie ein seidener Schal, der ihn wärmen sollte.
Durch Michael zog das Gefühl, im Unwirklichen zu sein. Er streckte seinen gesunden Arm aus und griff vorsichtig, als könne er sie zerbrechen, in die langen Haare. Er drehte eine Locke um den Finger und atmete tief auf.
»Bist du ein Engel …«, flüsterte er.
»Du bist wieder da …«, sagte Sonja. »So lange warst du weg …« Sie nahm den in ihre Locken gewickelten Finger und legte ihn an ihre Lippen. Es war eine Geste scheuer Zärtlichkeit … nur sekundenschnell, aber innig und voll Ehrlichkeit des Gefühls.
Georghe Brinse legte die Hand auf ihre Schulter.
»Wir müssen die Wunde nachsehen.«
Paul Herberg stand stumm, zur Blödheit verurteilt, daneben. Nur seine Augen sprachen und fragten. Sie kennt ihn? Woher kennt sie ihn? Wer ist dieser Junge? Er beugte sich vor und sah Michael ins Gesicht. Brinse drückte ihn weg, auch Sonja schob er vom Bett weg. Dann wickelte er den durchbluteten Verband ab, riß die auf der Wunde liegende Schicht mit einem Ruck ab und winkte Herberg, die Lampe näherzuhalten.
Sonja starrte auf die große Biß- und Reißwunde. Sie zitterte plötzlich. Mit einer Bewegung des Schmerzes legte sie beide Hände vor die Augen, um das wieder rinnende Blut nicht zu sehen.
»Ich werde nähen müssen«, sagte Brinse. Er drückte ein großes Stück Zellstoff auf die Wunde und suchte in seiner Tasche nach Nadeln und Catgut. »Mach die Wunde sauber, Sonja«, sagte er dabei. »Beeile dich! Ich habe dich nicht zum Weinen mitgenommen!« Er schielte zu Michael, der noch immer Sonja ansah, als begreife er nicht, daß es ein Mensch war, der vor ihm saß, und keine Erscheinung. »Hast du starke Schmerzen?«
Michael nickte. »Ja.«
»Und wie ist dein Herz? Ich muß dein Herz hören.«
Der alte Arzt öffnete das Hemd auf Michaels Brust und legte sein Ohr an die Herzgegend. Er lauschte eine Weile.
»Es ist gut«, sagte er zufrieden. »Du bist ja noch jung. Woher soll dein Herz schlecht sein?« Er griff in die Aktentasche, nahm ein Röhrchen mit kleinen, weißen Tabletten heraus und schüttete vier Pillen in seine Hand. »Hier, nimm. Alle vier! Sonja, hole Wasser …«
Michael schluckte die vier Pillen. Aus der Hand Sonjas trank er Wasser. Sie stützte mit ihrem Arm seinen Kopf und hielt den Holzbecher an seine heißen Lippen.
»Er hat ja Fieber«, sagte sie stockend. »Er ist ganz heiß.«
»Nach diesem Medikament wird er schlafen. Fest schlafen. Er wird nichts mehr fühlen.«
Michael umklammerte Sonjas Hand, als sie den Becher auf den Tisch stellen wollte. »Bleib bei mir!« sagte er leise. »Bitte!«
So schlief er ein. Ihre Hand haltend, lächelnd, glücklich. Es war ihm, als würde er weggetragen, als schwebe er durch den Raum, eine Feder, die sich in den schwarzen Haaren Sonjas verfing …
»Jetzt spürt er nichts mehr«, sagte Georghe Brinse. »Wir können anfangen. Wo hast du die Flasche mit Alkohol und das Jod, Sonja?«
Sorgfältig nähte Brinse die große Wunde zu. Sonja reichte ihm zu, was er brauchte … die Nadeln, bereits eingefädelt, wie sie es bei ihm gelernt hatte, die Verbände, die Klebestreifen. Als Brinse sich nach dem Nähen die Hände in heißem Wasser wusch, das Herberg in eine Schüssel geschüttet hatte, sah er immer wieder auf das eingefallene Gesicht des Deutschen zurück.
»Er muß hier weg«, sagte er. Sonja nickte. Sie glaubte, er spreche mit ihr. Daß die Worte dem taubstummen Grigori galten, ahnte sie nicht. »Er muß richtig gepflegt werden. In dieser Hütte ist es unmöglich, seine Wunde zu überwachen. Wir nehmen ihn mit nach Tanescu.«
»Ins Dorf?« Sonjas Augen wurden weit vor Schreck. »Dort ist doch die Miliz. Stepan Mormeth wird ihn jagen … er hat auch seine Kameraden gejagt und gefunden!«
»Wir müssen ihn verstecken. In einem Bauernhaus, oben in einer
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