Der letzte Karpatenwolf
auch fest und zog sich an ihm von der Mantelrolle, die als Kopfkissen diente, hoch.
»Du sollst liegenbleiben, Mihai!« sagte Sonja strafend. »Du darfst nicht aufstehen!«
»Du kennst meinen Namen?« Michael stand. Er fühlte die Nachgiebigkeit seiner Beine und vermied es, einen Schritt zu gehen.
»Vera Mocanu sagte ihn mir …«
»Vera!« In Michael brach die Erinnerung auf wie ein Vulkan. Vera Mocanu … sie war die erste Frau gewesen, die er geküßt hatte, und sie hatte in ihm ein neues Leben erweckt, das sie mit ihrer Flucht vor ihm verriet. Zwar hatte sie ihm das Leben gerettet … aber was für ein Leben war es?! Mit ihr, in ihren Armen hätte er sterben können … ohne sie weiterzuleben, war ihm damals unmöglich erschienen … bis er die Russen auf der Straße sah. Da wurde aus dem Träumer wieder der gejagte Heimatlose, der Vogelfreie, der Überrollte, der Vergessene, der Suchende und Irrende, der vor Angst Vergehende.
»Vera –«, wiederholte er leise. »Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht.« Sonjas Augen waren dunkel vor Zorn. »Aber wenn ich sie sehe, zerkratze ich sie! Sie hat dich allein gelassen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie soll verdammt sein! Wenn ein Mensch das am Ostertag sagt, muß es Gott hören!«
»Sie hat mir das Leben gerettet.«
»Du liebst sie noch immer?«
»Ich … ich habe sie nie geliebt.«
Sonja sah ihn traurig an. »Warum lügst du?« fragte sie leise. »Du tust mir nicht weh damit. Du hast mich ja nicht gesehen … Du lagst damals im Gras und hattest große Schmerzen. Aber ich habe dich gesehen … und ich habe dich nicht vergessen … Doch, eine Zeitlang hatte ich dich auch vergessen. Aber dann kam diese Vera Mocanu, und als sie von dir sprach, habe ich dich wiedergesehen … Und seitdem habe ich dich nie vergessen!« Sie sah Michael aus ihren großen schwarzen Augen kritisch an. »Ist das nicht merkwürdig, Mihai? Du kennst mich nicht … und ich habe dich nie vergessen … Ich wußte nicht mehr, wie du aussiehst … Und doch habe ich dich wiedererkannt … gestern, als du dalagst und Onkel Georghe dir die Wunde zunähte.«
Michael griff an seine Schulter. Unter dem dicken Verband spürte er nur noch ein leichtes Ziehen und Brennen. Genäht hat man mich? Ach ja … ein alter Mann war auch da. Und vier Pillen hat er mir gegeben … Sie waren wunderbar. Sie schenkten einen Traum, der leicht wie ein Gänseflaum war.
»Wie heißt du?« fragte er.
»Sonja. Sonja Patrascu.«
»Wie schön das klingt. Wie eine schwermütige Melodie.«
»Mein Vater heißt auch Mihai.«
Michael strich sich über das Gesicht. Sein verwilderter Bart kratzte in der Handfläche. Verstohlen blickte er auf die Spiegelscherben unter dem Wandbrett. Sie waren weggefegt.
»Ich habe sie weggenommen.« Sonja strich über seinen Arm, scheu und doch zärtlich. »Du hast es nicht sehen können …«
»Es war schrecklich, Sonja. Ich habe mich nicht wiedererkannt. Ich sah mich – und begriff nicht, daß ich es war.«
»Du wirst bald anders aussehen. Du sollst zu uns ins Dorf kommen.«
»Ins Dorf? Das ist doch unmöglich!«
»Du wirst unter dem Dach wohnen. Wenn es dunkel ist, kannst du hinter dem Haus im Garten oder im Maisfeld Spazierengehen. Keiner wird dich sehen. Auch Mormeth nicht.«
»Wer ist Mormeth?«
»Ein Zigeuner. Er ist Milizsoldat.«
»Dein Liebhaber?«
»Ich habe keinen Liebhaber!« rief Sonja laut. »Mormeth hat deine Kameraden gefangen. Damals.«
»Weißt du, wo sie jetzt sind?«
»Vielleicht im Gefangenenlager Focsani.«
»Vielleicht –«
Sonja sah von Michael weg auf ihre Hände. »Die Miliz hat sie den Russen übergeben … da weiß man nie, was aus ihnen geworden ist.«
Damals, in der Höhle, dachte Michael. Wie lange ist das her? Der Architekt Bornemann, der die Höhle wohnlich umbaute … der Draufgänger Kleinhans, dem nichts unmöglich war … der Allgäuer Toni Haindl, aussehend wie ein Bulle und mit dem Gemüt eines Kindes … wie lange war das her? Und jetzt sind sie irgendwo in Rußland in einem Lager … hinter dem Ural vielleicht … oder am Eismeer, oder an der Grenze Asiens, in Sibirien oder gar in der Mongolei … überall konnten sie sein. Auch unter der Erde … in einem Bergwerk oder einem Massengrab. Nur er lebte … Michael Peters, der Junge aus Westfalen, das Kind, das man in die graue Uniform steckte und ihm sagte: Geh hinaus – du rettest Deutschland! Und er hatte es geglaubt. Er hatte einfach alles geglaubt. Auch die Liebe Vera Mocanus … Aber
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