Der letzte Karpatenwolf
Verständnis lag wie eine Brücke zwischen ihnen. Aber keiner überschritt sie, weil Politik und Vernunft zwei Dinge sind, deren Paarung geradezu widersinnig wäre.
»Sonja hat dich verborgen gehalten, sagst du? Aus Liebe? Ich werde sie fragen!« Sumjow ging hinter seinen Schreibtisch zurück und legte die Pistole wieder vor sich hin. »Warum habt ihr kein Vertrauen zu euren sowjetischen Freunden?! Hättest du dich gemeldet …«
»… wäre ich erschossen worden wie hundert andere Kameraden!«
»Keiner ist erschossen worden!« brüllte Sumjow. »Wir haben nur Spione liquidiert!«
»Ihr hättet mich zum Spion gemacht!«
Lupescu rang nach Luft. Die Verhinderung des Genickschusses war schon wie ein Wunder … und jetzt zerstörte dieser Idiot die letzte, unwahrscheinliche menschliche Regung Sumjows durch seine Frechheit.
Oberst Boris Petrowitsch Sumjow betrachtete Michael voll Interesse. Ist es Mut oder Dummheit, fragte er sich im Inneren. Oder ist es ehrliche Wahrheitsliebe, die ihn so sprechen läßt. So redet doch kein Mensch, dem der Pistolenlauf im Nacken liegt.
»Wo kommst du her?« fragte er.
»Aus Westfalen. Ich war ein Bauer und züchtete Pferde mit meinem Vater.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich will zurück nach Deutschland. Mit Sonja! Sie hat mir aus Liebe das Leben gerettet … und dieses Leben soll ihres sein. Sie soll glücklich werden …«
»In einem kapitalistischen Land, was?«
»Es ist meine Heimat.«
»Bleib in Rumänien!« Sumjow nahm die Pistole vom Tisch und steckte sie in das Futteral am Koppel. Jon Lupescu atmete auf. Das Verhör schien beendet zu sein. Das merkwürdigste Verhör, das er je bei Oberst Sumjow miterlebt hatte. »Du wirst hierbleiben und erklären, daß du kein Deutscher mehr sein willst!«
»Das kann ich nicht.« Michael sah Sumjow starr an. »Mein Vater ist jetzt alt. Ich erbe den Hof. Man braucht mich zu Hause.«
Der sowjetische Oberst hob die Schultern. »Wie du willst. Es wird alles seinen Weg gehen … Abführen!« brüllte er.
Die Tür öffnete sich. Drei sowjetische Soldaten nahmen Michael in die Mitte und trieben ihn mit einigen Kolbenstößen ihrer Maschinenpistolen aus dem Zimmer. Lupescu blieb allein zurück.
Er lehnte an der Wand neben der Tür und rang mit den Händen, daß die Fingergelenke knackten.
»Was wird mit ihm geschehen, Genosse Oberst?« fragte er leise.
Sumjow blickte auf, als bemerke er erst jetzt die Anwesenheit des rumänischen Kommissars.
»Er kommt nach Focsani, wie alle anderen. Du hast Mitleid mit ihm?«
»Ich? Nein?!« sagte Lupescu schnell. »Wie kann man mit einem deutschen Hund Mitleid haben …«
Schnell verließ er das Zimmer. Oberst Sumjow sah ihm nach. Ein bitteres Lächeln lag um seine Mundwinkel.
»Ratte …«, sagte er leise.
Er wußte kein Wort, das niedriger war.
Sechs Wochen lang wußte niemand in Tanescu, was aus Michael und Sonja geworden war. Georghe Brinse war nach Bacau gefahren, um sich über sieben Ecken zu erkundigen … er blieb bei Jon Lupescu hängen, der ihm nur sagen konnte: »Man hat sie getrennt weggefahren. Jeder in einem Jeep. Scharf bewacht. Mehr weiß ich auch nicht.«
Anna Patrascu stand nicht mehr aus ihrem Bett auf. Sie griff sich an das Herz, wenn sie nur ein paar Schritte laufen wollte und mußte sich sofort wieder legen. »Gebt mir meine Sonjanja wieder«, sagte sie immer wieder und weinte. »Warum haben sie sie mitgenommen?! Ist denn Liebe ein Verbrechen! Ist denn alles Verbrechen auf der Welt? Hat der Krieg denn alle Seelen zerstört?!«
Mihai Patrascu trug die Ungewißheit nach außen hin mit verbissenem Gleichmut. Er arbeitete auf den Feldern, er besuchte die Schulungsabende in der Stolowaja, er trank seinen Wein wie bisher … aber manchmal, spätabends, wenn das Dorf schlief, huschte er wie ein Schatten hinüber zur Kirche und zum Popen und saß lange bei ihm, den Kopf auf beide Hände gestützt, klagend und um Rat suchend.
»Glauben Sie, daß man beide umgebracht hat?« fragte er immer wieder. »Keiner weiß, wo sie sind. Man hat sie verscharrt, Ehrwürden … bestimmt hat man sie verscharrt. Ist es so, dann bringe ich Lupescu um. Und wenn mich Gott mit ewiger Verdammnis schlägt. Ich bringe ihn um …«
»Sie werden wiederkommen, Mihai«, sagte der Pope tröstend. »Du mußt daran glauben.«
Aber weder Mihai noch der Pope selbst konnten daran glauben.
An der Straße von Bacau nach Tasca, vorbei am reißenden Flüßchen Bristita, lag ein großer Steinbruch. Die
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