Der letzte Karpatenwolf
Felsen des Tarcaului-Gebirges wurden dort zerkleinert, zu Schotter und Packlagen verarbeitet und zum Straßenbau weitergeschafft.
Aber nicht wie in anderen Steinbrüchen arbeiteten hier Schüttelsiebe, Zerkleinerer, Transportbänder und Silos, sondern ein Heer von Gefangenen sprengte die harten Felsen auf, zerhieb die großen Brocken mit Stahlkeilen und Hämmern, schaffte die großen Steine zu den Loren, wo andere Gefangene die Wagen auf den Schienen den Berghang hochdrückten und in die Lastwagen kippten.
Zehn Stunden am Tag schufteten Hunderte dieser Gefangenen in glühender Sonne, strömendem Regen und vereisten Wegen. Im Lager, das drei Kilometer weiter in einem alten Steinbruch lag – armselige Bretterbuden mit Holzbetten, einem Krankenrevier, das ständig überfüllt war, zwei Wachbaracken aus Stein und einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, krochen sie nach dem Essen auf ihre Holzbetten und schliefen, bis sie am nächsten Morgen um sechs Uhr wieder hinausgejagt wurden.
Leutnant Sergeij Polkatin, der Kommandant des Lagers III/M, sah diese wandelnden Gerippe mit gemischten Gefühlen an. Er war ein junger Offizier von der Moskauer Kriegsschule.
Michael kam mit einem Transport von sechzig neuen Häftlingen – meistens politische Gefangene – in das Lager III/M. Sergeij Polkatin besichtigte die Neueingänge selbst. Michael fiel ihm auf. Er war jung, kräftig und noch nicht durch lange Verhöre zermürbt.
»Woher?« fragte Polkatin knapp.
»Aus Deutschland.«
»Soldat?«
»Ja.«
Er kam zum Straßenbau, an die Baustelle zwischen Búhúsi und Piatra Neamt, schleppte die schweren Packlagensteine auf den Schultern und schichtete sie nebeneinander in das Straßenbett.
Vier Tage später lernte Michael das Mädchen Russanda Katana kennen. Sie arbeitete in der Küche des Hauptlagers und kam jeden Mittag an die Straßenbaustelle, um die dünne Kohlsuppe auszuteilen. Michael lag erschöpft neben seinen Steinen und schreckte hoch, als ihn eine Hand berührte.
Er sah ein rundes Gesicht in einem fahlen Kopftuch, einen schlanken Körper in langen Röcken und eine Hand, die eine Blechschüssel vor seinen Kopf hielt.
»Bist du Mihai?« fragte das Mädchen leise. Sie sah, daß er zusammenfuhr und schob schnell die Schüssel näher. »Still! Nimm und iß. Ich bin Russanda Katana. Ich habe Sonja Patrascu getroffen. Vor einer Woche … im Lager von Dobreni. ›Wenn du Mihai siehst, irgendwo, dann sag ihm, daß ich lebe‹, hat sie zu mir gesagt. ›Mihai ist groß und blond, ein Deutscher. Du wirst ihn sofort erkennen, wenn du ihn siehst. Er hat einen schönen, weichen Mund … ‹ Als ich dich liegen sah, wußte ich: Du bist es!«
»Wie geht es Sonja?« Die Schüssel zitterte Michael in den Händen. Sie lebt, durchrann es ihn glücklich. Sie lebt. Er spürte keinen Schmerz mehr in der Schulter, die Erschöpfung fiel von ihm ab … er kam sich leicht vor, einer Feder gleich, die im Winde schaukelt.
»Sie ist in der Lagerwäscherei. Es geht ihr gut.«
»Es geht ihr gut …« Er sagte es wie das Amen eines Gebetes. »Gut …«
Vor zwei Tagen hatte er Sehnsucht nach dem Tod gehabt. Er hatte in der Nacht in der Tür seiner Holzbaracke gestanden und hinüber zu dem elektrischen Zaun gestarrt. Dagegenlaufen – und alles ist vorbei, hatte er gedacht. Oder zu Polkatin gehen und die Faust heben … alles andere war Erlösung. Wer erst so weit ist, daß er den Tod liebt, für den gibt es keinen Schrecken des Lebens mehr.
Aber dann hatte er doch gezögert und war zurück auf seine Holzpritsche gewankt. Noch konnte er denken, und mit dem Denken kommt die Feigheit. Erst, wer nicht mehr denken kann, öffnet dem Mut sein Herz, sich zu opfern. Jetzt war er glücklich, feig gewesen zu sein. Sonja lebte … und auch er mußte weiterleben. Vielleicht gab es doch ein Morgen …
Mit würgendem Schlucken aß Michael die Kohlsuppe, die ihm Russanda Katana gegeben hatte … es war Kohl, der aus den Mieten gegraben worden war und den Lagerküchen zur Verfügung gestellt wurde. Das Stück Brot, das er bekam, war glitschig, pappte an den Zähnen fest und verklebte den Gaumen.
In der zweiten Nacht bekam er Fieber. Er schlug in Fieberphantasien um sich, beschmutzte unter sich das Bett und lag, im eigenen Kot, zuckend auf der Pritsche, als der Sanitäter endlich kam und nachschaute.
»Typhus oder gar Cholera«, sagte er ungerührt. Dann hob er die Schultern und deckte Michael wieder zu. Selbst der bestialische Gestank, der im Raum lag,
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