Der letzte Wille: Thriller (German Edition)
irgendwo anfängt. Die ganzen inoffiziellen Vorschriften und Regeln. Ich glaube, ich habe mich schon mit halb Glasgow angelegt, dabei bin ich kaum eine Woche hier. Das ist persönliche Bestleistung, selbst für meine Verhältnisse.«
Aoife setzte sich auf den Schreibtischstuhl und bot Paddy die Liege als Sitzplatz an. Auch dort lagen Akten und anstatt sie zur Seite zu räumen und bequem zu sitzen, quetschte sie ihren Hintern lieber auf den Rand.
»Also …« Aoife sah auf die Akten auf ihrem Schreibtisch, klopfte mit beiden Händen auf ihren Arbeitsplatz und versuchte sich zu erinnern, wo was lag. »Was kann ich für Sie tun?«
Paddy nickte in Richtung der Akten. »Tut mir leid wegen der Störung.«
»Nein, ist kein Problem.« Aoife wandte sich ihr zu, damit sie ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein konnte. »Ich habe das neulich Nacht vergessen zu sagen: Es tut mir sehr leid wegen Ihres Freundes. Das war wirklich eine scheußliche Sache.«
»Ja, brutal«, sagte Paddy. Sie holte tief Luft. »Ich bin gekommen, weil Sie Ihre Ausbildung in Belfast absolviert haben.«
Aoife sah sie skeptisch an. »Sie wollen doch keinen Artikel schreiben, oder? Ich weiß nicht, wie das hier ist, aber, wo ich herkomme, dürfen wir eigentlich keine Interviews geben.«
»Nein, nein, kein Interview.« Sie wusste nicht recht, wie sie es ausdrücken sollte.
»Ein Freund von Terry hatte heute Morgen einen Schlaganfall. Er war erst um die dreißig. Ich habe ihn gefunden.« Sie sah weg, in Gedanken stand sie wieder in dem unaufgeräumten Flur, sah erneut den getrockneten kreidigen Speichel vor sich. »Die Polizei hat behauptet, er habe gekokst und den Schlaganfall selbst verschuldet, aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass er Drogen genommen hat.«
»Viele Drogenabhängige konsumieren heimlich. Sie würden es nicht unbedingt wissen, wenn er Drogen genommen hätte.«
»Nein, es wirkte inszeniert.« Jetzt, wo sie noch einmal darüber nachdachte, war sich Paddy sicher. »Auf dem Tisch lag eine Line Kokain, jedenfalls glaube ich, dass es Koks war …«
»Wenn es weiß war und eine Line, dann war es wahrscheinlich Koks. Nur Speed wird sonst noch geschnupft, das ist aber eher gelblich.«
»Die Sache ist die, dass Kevin jahrelang getrunken hat. Er war ein ungezügelter Säufer und berüchtigt dafür. Er hat überall getrunken, vom Morgengrauen bis spätnachts. Und vor ein paar Jahren hörte er auf. Wenn er Drogen genommen hätte, hätte das jeder mitbekommen. Er hätte es nicht heimlich getan, sondern genauso exzessiv, wie er gesoffen hat.«
Aoife nickte. »Okay. Aber auf dem Tisch lag doch eine Line, oder?«
»Ja, schon«, räumte Paddy ein, »und er hatte kreidiges weißes Pulver vermischt mit Speichel erbrochen. Ich weiß, das sieht aus, als hätte er …«
»Warten Sie«, Aoife hob eine Hand. »Er hat weißes Pulver erbrochen und auf dem Tisch lag eine Line zum Schniefen?«
Paddy zögerte. »Ja, ich weiß, das sieht aus, als hätte er es genommen, aber ein Krankenwagen hat ihn weggebracht und er wurde in keiner Notaufnahme gemeldet …«
Aoife unterbrach sie abrupt. »Wer weiß, dass wir uns kennen?«
Paddy zuckte mit den Schultern. »Das könnte jeder wissen. Die Beamten haben sich wegen Samstagnacht das Maul zerrissen. Glauben Sie mir das mit Kevin, ich weiß, es sieht nach einem eindeutigen Fall aus, aber er …«
Aoife unterbrach sie noch einmal. »Das sieht nicht eindeutig aus. Das sieht seltsam aus.« Sie stand plötzlich auf, wirkte sehr aufgebracht. »Seltsam. Sie kommen besser mit mir.«
Sie hob eine braune Lederhandtasche vom Boden, legte sich den Riemen um die Schulter und rief zur Tür hinaus: »Ich gehe essen. Ärgert mir die Leichen nicht.«
Paddy folgte ihr hinaus in den Gang und sah, wie sie der Kopf eines Mannes aus dem begehbaren Kühlschrank heraus anstarrte. Er warf ihr ein Lächeln zu und hielt die Daumen hoch.
»Mir nach«, sagte Aoife und marschierte den Gang entlang.
II
Er stand in Landsdowne Crescent, hatte die Hände in den Taschen seines Trainingsanzugs vergraben und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Direkt daneben befand sich eine stark befahrene Straße, aber die Häuser umringten einen privaten Garten, der den Lärm zu schlucken schien. Die alten Gebäude standen einander in stiller Würde gegenüber. Er war viele Male in der Gegend gewesen, in Clatty Pat’s Nachtclub, montags wimmelte es da nur so von scharfen Bräuten, aber das Haus hier würde niemandem aufallen, es sei denn,
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