Der letzte Winter
das?«
»Dass er kürzlich aufgenommen wurde.«
»Es könnte bedeuten, dass sie noch leben«, sagte Winter. »Aber wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Die Figuren im Bett«, sagte Ringmar.
»Es sind mehr als Figuren. Es sind Menschen.«
»Sie sind wie du und ich, Erik.«
»Oder sie können werden wie wir«, sagte Winter. »Sie sind noch jung.«
»Das wissen wir nicht.«
Winter schwieg.
»Immerhin wissen wir jetzt etwas, was er nicht weiß«, sagte Ringmar.
»Ja.«
»Warum überhaupt filmen? Warum uns den Film schicken?«
»Darauf gibt es verschiedene Antworten«, sagte Winter.
»Nenn mir eine.«
»Er braucht Hilfe.«
»Wobei?«
Winter schwieg. Er war ebenfalls an das Fenster getreten. Irgendwo dort draußen in der brutalen Stadt unter dem falschen Himmel lag die Antwort. Natürlich lag sie immer dort draußen. Man musste nur hinausgehen und sie abholen, wenn man wusste, was man zu tun hatte. Er hatte es immer gewusst. Es war ihm immer gelungen, formell jedenfalls, selbst wenn es ihm nicht geglückt war. Diesmal würde es ihm gelingen, nicht alles, aber diesmal würde er Leben retten. Sonst könnte er gleich Silvester feiern und alles vergessen. Doch dieser Fall war etwas anders gelagert. In fast allen Fällen kam er erst hinzu, wenn die Frage nach dem Leben nicht mehr relevant war. Das Leben war schon beendet. Dann kam es darauf an, den zu finden, der es genommen hatte.
»Hilfe, damit er aufhören kann?«, sagte Ringmar.
»Vielleicht.«
»Warum? Warum will er aufhören?«
»Vielleicht hat er Geschmack daran gefunden«, sagte Winter.
»Am Morden?«
»Ja.«
»Und eigentlich will er es gar nicht?«
»Genau.«
»Dann ging es bei den ersten beiden Morden also um etwas anderes? Um mehr oder wie zum Teufel man das ausdrücken soll.«
»Vielleicht.«
»Um was?«
»Rache.«
Ringmar nickte. Er drehte sich wieder zum Fenster um. Der Himmel war wunderbar blau, ekelhaft blau. Bald würde es hier oben im Norden wieder dunkel sein. Dann brauchte er das Elend nicht mehr zu sehen. Es war noch Zeit genug, sich zu betrinken. Aber vielleicht würde er es nicht mehr schaffen.
»Jetzt ist wieder filmtime «, sagte Winter und wandte sich vom Fenster ab. »Ich verlasse den Raum nicht, bevor wir etwas Neues in diesem Film entdeckt haben. Wir haben etwas Neues gehört, und jetzt wollen wir etwas Neues sehen.«
Yngvesson hatte sich in den vergangenen Tagen ausschließlich mit den extremen Details beschäftigt. Er war Bild für Bild durchgegangen. Winter sah wieder den Pokal auf dem kleinen Tisch, der Kommode. Der Pokal hatte ihnen bis jetzt nicht weitergeholfen. Er sah aus wie alle Pokale der vergangenen dreißig Jahre: dreißig Jahre Weitwurf mit kleinem Ball, sechzig Meter laufen, hoch, weit. Auf der matten Oberfläche war keine Schrift zu erkennen. Die Rückseite wurde von der Wand reflektiert, neben dem Fenster. Es sah ein bisschen aus wie eine optische Täuschung. Licht, wo es kein Licht geben sollte. Ein Schatten von dem kleinen Preispokal. Eine Silhouette. Fast wie ein Negativ, hatte Winter gedacht, als er es dieser Tage entdeckt hatte. Ein Negativ. Konnte man etwas mehr herausholen? Yngvesson blieb nichts anderes übrig, als die Tests mit seinen Methoden weiter fortzusetzen. Zu experimentieren, immer ging es um Experimente, wenn die Methoden im Unbekannten getestet wurden, am Unbekannten. Darum ging es in diesem Fall, das noch Unbekannte.
Jetzt sahen sie das Fenster, die Schatten, Konturen und dahinter Silhouetten, nur Sekunden. Die Kamera war blitzschnell an ihnen vorbeigehuscht. Das Interessante gab es im Bett. Der Rest war Kulisse. Requisite.
»Mehr kann ich im Augenblick nicht herausholen«, sagte Yngvesson.
»Wir gehen Bild für Bild durch«, sagte Winter.
»Okay, Bild Nummer eins«, sagte Yngvesson.
Ringmar schaute auf seine Armbanduhr.
»Du bist freiwillig hier, Bertil.«
»Hab ich was gesagt?«
»Nein, nein.«
»Mir ist es genauso wichtig wie dir, Erik.«
»Ich weiß. Entschuldige.«
»Ich habe es im Gefühl, dass wir nah dran sind«, sagte Ringmar.
»Wie meinst du das?«, fragte Yngvesson.
»Dass wir es bald erfahren werden, im Laufe der Feiertage, Neujahr, heute Abend, morgen.«
»Warum?«
Ringmar antwortete nicht. Auf die Frage gab es keine Antwort. Yngvesson war ein Suchender, er war kein Fahnder.
»Okay, das Fenster«, sagte er.
»Mir liegt übrigens die Tourenliste mit jedem Stopp des Eisautos im Zentrum vor«, sagte Winter. »Möllerström hat sie von der Homepage
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