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Der letzte Winter

Titel: Der letzte Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
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Er drehte sich wieder um. Die verputzte Fassade auf der anderen Seite. Die Balkone schwebten im Bauhausstil übereinander. So sieht es also in Wirklichkeit aus. Nichts davor, nichts, das verdeckt, hindert, keine Gardinen, keine Schatten, kein Licht und keine Dunkelheit. So wie hier. Hier ist es. Jetzt ist es so weit.

35
    S ie musste wieder eingedöst, eine Weile abwesend, nicht bei sich selber gewesen sein. Was für eine Befreiung! Aber dann der Moment, wenn man aufwacht und wieder im Alptraum ist. Sie spürte ein Jucken im Nacken, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie hatte von gelähmten Menschen gelesen, die sich nicht kratzen konnten. Schließlich gewann der Juckreiz die Oberhand. Das Leben dieser Menschen bestand nur noch aus Jucken oder Brennen. Das empfand sie jetzt. Sie konnte an nichts anderes denken. Sie wusste nicht mehr, wo es eigentlich juckte, es juckte am ganzen Körper.
    Und dann hörte es jäh auf. Als hätte jemand ein Pflaster abgerissen.
    Sie versuchte, den Kopf zu bewegen. Ihre Lage war verändert. Hatte sie sich im Schlaf bewegt? Nein. Er hatte sie bewegt. Sie befand sich in einem Alptraum. Auch im Schlaf! Alptraum im Wachen, Alptraum im Schlaf. Er musste ihr erneut etwas gegeben, sie betäubt haben. Hatte sie Kopfschmerzen? Nein, Drogen waren es nicht gewesen.
    Sie hatte keinen Knebel mehr, auch keine Augenbinde, war jedoch weiterhin gefesselt.
    Vor dem Fenster hing ein Rollo. Die Ritzen rundherum ließen ein Rechteck aus Licht herein. Im Zimmer herrschte Dunkelheit, eine Art Dunkelheit, die ihr sagte, dass es draußen auch dunkel war oder dunkel wurde. Oder umgekehrt, draußen war es noch Tag oder Nachmittag, und bald würde es dunkel werden. Dunkel wurde es immer. Wenn man sich auf etwas verlassen konnte, dann darauf. Dunkel. Auf etwas anderes kann ich mich nicht verlassen. Ich kann mich auf überhaupt nichts mehr verlassen. Auf niemanden. Hör auf zu denken! Weg mit diesen Gedanken! Warum habe ich keinen Durst und keinen Hunger? Hat er mir etwas gegeben, während ich bewusstlos war? Herrgott, so musste es sein. Ich habe keinen Hunger, ich habe keinen Durst. Vielleicht weil ich Angst habe? Hört man dann auf, durstig zu sein?
    Was ist das für ein Zimmer? Sie versuchte sich umzusehen, den Blick weitergleiten zu lassen. Es war, als würde sie einen Stein vor sich herschieben.
    Ist es dasselbe Zimmer?
    Denk nach, Gerda, denk nach!
    Du hast nur eine Wand gesehen. Jetzt siehst du eine andere Wand. Du kannst nicht erkennen, wo du bist. Du weißt nicht, wo du bist. Du bist noch am selben Ort. Wie hätte er dich transportieren sollen? Warum sollte er das tun? Dies ist dein Zimmer.
    Hier bist du sicher, Gerda.
    Und als ihr das klarwurde, begann sie lautlos zu weinen.
    Ringmar stand inzwischen neben Winter.
    »Siehst du, was ich sehe, Bertil?«
    »Vielleicht.«
    »Vielleicht?«
    »Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren, Erik.«
    Ringmar drehte sich um und schaute nach oben. Er sah Fenster, die schwarz waren im Schatten. Er sah Gardinen, vielleicht auch sie Schatten. Im Westen ging die Sonne unter, hinter den Fassaden, sie konnte sich kaum beherrschen. Sie floh für immer vor dem alten Jahr. Es war ein Scheißjahr gewesen.
    »Das könnten sie sein«, sagte er. »Könnten die Balkone sein.«
    »Sie sind es«, sagte Winter.
    Ringmar sah sich wieder um.
    »Ob uns jemand beobachtet?«
    »Jemand, der auf uns gewartet hat«, sagte Winter.
    »Dann muss der Junge aber rund um die Uhr auf dem Posten gewesen sein«, sagte Ringmar.
    »Der uns filmt«, sagte Winter.
    »Möglich«, sagte Ringmar, »aber bald ist die Vorstellung beendet.« Er drehte sich zu Winter um. »Was willst du unternehmen, Chef?«
    Winter schaute nach oben.
    »Wir gehen rein.«
    »Wo ist der Eingang?«
    »Hinter der Baracke da, glaube ich.«
    »Wollen wir Verstärkung anfordern?«
    »Nein.«
    Ringmar sah wieder nach oben.
    »Es kommen ja nicht viele Wohnungen in Frage.«
    »Nein.«
    Winter wählte den Weg links um die Baracken herum, Ringmar ging in die andere Richtung. Winter sah den Eingang, darüber eine hübsch verschnörkelte Hausnummer, golden. Daneben Geschäftsräume, die gerade neu eingerichtet wurden. Werbung, die ausgetauscht werden musste.
    »Hier war der alte Elvis-Laden«, sagte Ringmar. »Da war ich schon mal.«
    Winter prüfte die schwere Haustürklinke und drückte sie herunter. Die Tür war natürlich verschlossen. Er überflog die Namen neben dem Haustelefon. Die Namenstafel war unvollständig. Namenstafeln

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