Der letzte Winter
was?«
»Von …« Winter brach ab. »Es ist ein bisschen kompliziert. Es geht um den Toten, der an unseren Strand angeschwemmt wurde. Und um die vermisste Frau, die Bereitschaftspolizistin.«
»Dann warte doch bis morgen.«
»Du kennst mich, Angela.« Er hängte das Handtuch zurück, mit dem er sich das Gesicht zehnmal abgetrocknet hatte, als wollte er eine logische Erklärung dafür hervorrubbeln, dass er in den frühen Morgenstunden unbedingt einen fremden Menschen besuchen musste. Vielleicht gab es eine Erklärung, das würde sich zeigen. Die Erfahrung hatte er schon häufiger gemacht, der Tat folgte die Logik. »Ich muss es tun. Wahrscheinlich reicht es schon, wenn ich eine Runde um den Häuserblock drehe.«
»Wenn du nur rastlos bist, geh in die andere Richtung.«
Er nickte.
»Womöglich ist es gefährlich, allein hinzugehen«, sagte sie.
»Nein, nein.«
»Idiot.« Sie öffnete die Tür und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Ihre Schritte konnte er kaum hören, nackte Füße auf geöltem Tannenholz.
Über dem Vasaplatsen war es windstill. Die Straßenbahnen fuhren noch nicht. Die Stadt lag im Winterschlaf. Er passierte das alte Universitätsgebäude, das wie ein Gefängnis aussah. Auf der anderen Seite der Vasagatan fuhr ein Taxi vorbei. Taxi Göteborg. Winter bog nach Norden zum Vasaplatsen ab, passierte die Götabergsgatan, ging geradeaus weiter und dann nach rechts in die Chalmersgatan.
Die Häuser um ihn herum lagen schwarz und still da, wie verrammelte Burgen. Eine mittelalterliche Stadt. Die Straßenbeleuchtung erreichte das Pflaster nicht. Ihr Licht wurde von der Nacht aufgesaugt.
Er war allein unterwegs. Allein auf der Erde mitten in einer großen Stadt.
Die Tür ließ sich leicht öffnen. Er konnte seine eigenen Schritte auf der Treppe nicht hören. Die Nacht warf nur schwache Schatten herein, die Treppenhausfenster hätten genauso gut dunkle Gemälde sein können. Sie hingen gerade, im rechten Winkel.
Er stand vor der Tür. Auch sie war ein schwarzes Gemälde. Plötzlich blitzte das Namensschild auf, als hätte ein Licht von der Haustür den Weg hierherauf gefunden, als wäre es ihm gefolgt. Es war kein Gold, im Dunkeln sah es eher wie Silber aus, ein matter Glanz. Derselbe Glanz wie auf dem Pokal, den er in Dahlquists Wohnung gesehen hatte.
Er klopfte an die Tür, ein dumpfes, schwaches Geräusch, das dennoch ein Echo im Treppenhaus erzeugte. Er klopfte noch einmal. Das neue Echo begegnete dem alten auf dem Weg von unten nach oben. Er klopfte kräftiger.
Wenn ich schon einmal hier bin, dachte er und klingelte, einmal, zweimal. Eins-zwei-drei-vier. Ich bin Kriminalkommissar. Ich habe jederzeit und überall das Recht auf Zutritt. Das Recht nutze ich jetzt.
Fast lautlos öffnete er die Tür mit einem fast stummen Geräusch, das sofort erstarb. Seine Fähigkeiten zum Einbrecher hatten sich verfeinert. Langsam schob er die Tür auf.
Jetzt stand er im Flur. Es war ganz hell, so, als funktionierte die Straßenbeleuchtung plötzlich wieder. Er brauchte kein Licht einzuschalten, um zu erkennen, dass er allein in der Wohnung war. Der Flur war genauso lang wie sein Flur am Vasaplatsen. Das hatte er erwartet. Es war fast ein bisschen vertraut, er verspürte kaum Angst. Was erwartete er denn? Das wollte er lieber nicht formulieren.
»Hallo?«
Seine Stimme klang ruhig. Darüber war er froh. Sie verriet ihn nicht. Durch verschiedene Öffnungen im Flur fiel Licht, wie elektrische Schatten. Es war ein verlockender Schein.
»Hallo? Jemand da?«
Keine Antwort.
»Hallo? Hallo? Hier ist die Polizei!«
Er sah einen Lichtschalter an der Wand und drückte darauf. Nichts geschah. Er ging tiefer in den Flur hinein. Links war die Tür zur Küche, die zum Hof ging. Es war der gleiche Grundriss wie in seiner Wohnung. Er tastete rechts nach einem Lichtschalter und drückte darauf. Die Küche wurde von dem milden Licht einer Lampe über dem Tisch erhellt. Der Tisch war leer. Die Spüle war leer. Zwei Stühle waren unter den Tisch geschoben. Auf dem Fensterbrett standen keine Pflanzen.
Am Kühlschrank hingen keine Notizen. Auf einer Arbeitsplatte links vom Herd standen vier Weinflaschen, darunter ein Amontillado, den Winter sofort erkannte. Neben der Flasche stand ein Porzellanschälchen, in dem drei Feuerzeuge der billigsten Sorte lagen, aus Plastik, der Bic-Typ, wie sie haufenweise auf den Tresen der Tankstellen angeboten werden. Die Feuerzeuge hatten die gleichen verwaschenen Farben wie Nietenlose, die man
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