Der lockende Ruf der grünen Insel: Roman (German Edition)
Stelle, an der sie am Morgen schon mit Sean gestanden hatte. Nur war sie diesmal allein, weil selbst ihre eigene Halluzinationskraft sie im Stich gelassen hatte.
Sie blickte sich mit großen Augen um, betrachtete die schroffe Felswand, die in den Ozean hinunterfiel, das weiche grüne Gras unter ihren Füßen und den endlosen Horizont über dem Meer. Es war dasselbe Panorama, das sie eben noch auf der Website gesehen hatte.
Das Tal der Weißen Frau.
In der Ferne bemerkte sie ein seltsam aussehendes Monument. Drei riesige Felsbrocken trugen einen vierten, der flach darüberlag, wie Soldaten fast, die ihre Verwundeten auf ihren Schultern voranschleppten. Etwas Goldenes glitzerte auf der Oberfläche der Steine, aber Danni war zu weit entfernt, um ausmachen zu können, was es war.
Blitze zuckten über den schwarzen Himmel, und die Luft nahm den Geruch von Schwefel an. Die mächtige Brandung, die gegen die Felsen schlug, brachte die Erde unter ihren Füßen zum Erbeben. Die ersten Regentropfen klatschten zu Boden und schlugen ihr peitschend ins Gesicht.
Sie senkte den Blick und blinzelte, als die Tropfen immer schneller fielen und die Kälte ihr bis in die Knochen drang. Das Grab war inzwischen mit rostroter Erde aufgefüllt, die es wie eine bösartige Schwellung in dem grünen Gras aussehen ließ. Widerstreitende Emotionen erfassten Danni. Während sie einerseits froh war, dass das Grab nicht mehr offen und die beiden verkrümmt daliegenden Körper am Boden nicht zu sehen waren, wäre ein anderer Teil von ihr am liebsten auf die Knie gefallen, um mit den Händen die Erde wegzuschaufeln, bis sie wieder ihr eigenes Gesicht und das des halbwüchsigen Jungen neben ihr sehen konnte.
In der Ferne graste eine Herde blökender Schafe, die sich so gezielt voranbewegten wie die Wolken und einer Weisung folgten, die sie nicht erkennen konnte. Dann stellte sich eins der Tiere plötzlich auf die Hinterbeine und sah sich um. Während Danni noch mit großen Augen zusah, wurde die Luft um das Tier herum zu einem silbrig schimmernden Strom, der prasselte und funkelte. Danni versuchte zurückzuweichen, doch ihre Beine fühlten sich ganz hölzern an, fast so, als wären sie auf dem weichen Boden unter ihren Füßen festgenagelt.
»Ich will raus«, sagte sie laut. »Raus hier. Auf der Stelle.«
Doch diesmal hatte sie keinen Führer. Niemanden, der ihr den Wunsch erfüllte. Die Landschaft vor ihr verblasste nicht, sie geriet nicht mal ins Schwanken. In was für einer Welt auch immer sie sich befand, sie blieb konstant. Danni schloss die Augen, betete im Stillen um einen Ausweg und versuchte, sich mit bloßer Willenskraft nach Hause zu versetzen.
Dann nahm sie eine Veränderung in der Luft wahr, die ihr fremd und vertraut zugleich war. Langsam, von einer Furcht beherrscht, die sie noch tiefer herabzog als die unter ihr nachgebende Erde, öffnete sie die Augen.
Eine Frau stand vor ihr. Eine von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidete Frau mit silbernem Haar, das ihr über die Schultern und bis zu ihren Knien herunterfiel. Es flatterte und bewegte sich im Wind. Mit einem kalten Lächeln zog sie einen silbernen Kamm aus ihrem fließenden weißen Gewand und fuhr sich damit durch das Haar, während sie Danni aus hellen, schmalen Augen unentwegt betrachtete. Jede Bewegung des silbernen Kamms brachte das Haar zum Glitzern wie Lametta. Schließlich unterbrach sie sich und hielt ihn Danni hin.
Der Kamm war am Rand mit seltsamen, konzentrischen Gravuren verziert, die das Auge neckten und ihre Furcht verschärften. Danni starrte darauf, bis ihre Angst sie mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte. Doch obwohl sie den Kopf schüttelte und immer wieder beschwörend vor sich hin murmelte: »Ich will nach Hause«, hob sich wie von selbst ihre Hand, und der Wunsch, den Kamm zu nehmen, führte ihre Finger immer näher an ihn heran. Ein Leuchten ging von der Weißen Frau aus, und der Kamm schien von der ihm innewohnenden Macht zu vibrieren. Er lockte Danni und forderte sie auf, ihn zu berühren.
Dann erhob die Frau den Blick plötzlich zu dem feindseligen dunklen Himmel und stieß einen gellenden Schrei aus, der selbst die mächtige Brandung unter ihnen übertönte.
Danni hielt sich die Ohren zu und schrie ebenfalls, um das grausige Geräusch nicht hören zu müssen, doch das Geheul der Weißen Frau wurde noch lauter und schriller. Die Schafe hörten auf zu grasen und drehten sich nach dem Gekreische um, und selbst der Wind ließ nach, als wollte er
Weitere Kostenlose Bücher