Der Lord und die Betrügerin
dumpfes Gefühl schlich sich in Kieras Herz, und sie fühlte eine Sekunde lang Eifersucht auf ihre Schwester. Elyn hatte die wahre Liebe gefunden, oder wenigstens glaubte sie das. Würde Kiera jemals diese ganz besondere und göttliche Freude fühlen? Würde sie sich jemals verlieben? Würde ihr je jemand mehr am Herzen liegen als alle anderen?
Sie runzelte die Stirn, und ein anderer, noch dunklerer Gedanke beschlich sie. Wenn Elyn und Brock ein so festes Band miteinander verband, wie würden die beiden je in der Lage sein, es zu brechen? Würde ihre Schwester das aufgeben, was sie sich am meisten wünschte? Elyn hatte viel riskiert, um bei Brock von Oak Crest zu sein. Genau wie er auch. Was also war es, das sie nach Lawenydd zurückbringen würde? Kiera beobachtete, wie sich eine schwarze Wolke über die Sonne schob.
Wer sagte ihr denn, dass Elyn überhaupt zurückkam?
Sie hat es versprochen.
Kieras Hand ging zu dem Kreuz an ihrem Hals.
Na und? Hat sie nicht schon zuvor gelogen? Hat sie nicht Vater versprochen, dass sie Kelan heiraten wird? Hat sie nicht diesen Schwur ebenfalls gebrochen ? Warum also sollte sie deinetwegen zurückkehren?
Der Gedanke nagte an Kiera, doch sie weigerte sich, so etwas zu glauben.
Sicher würde Elyn nicht zulassen, dass sie für den Rest ihres Lebens eine Lüge leben musste, dass sie so tun musste, als sei sie die Frau eines Mannes, der nach dem Gesetz gar nicht ihr Ehemann war. Elyn würde nicht wollen, dass ihre Schwester für immer eine Betrügerin blieb.
Oder vielleicht doch?
Eisig zerrte der Wind an Elyns Kapuze und wehte gegen ihre Wangen. Ihre Lunge brannte, und die Erschöpfung drohte sie zu überwältigen, genau wie ihr Pferd. Das Fell ihrer Stute war dunkel vor Schweiß, und ihr Tempo hatte sich verlangsamt. »Komm schon, komm schon«, flüsterte Elyn und drängte das müde Tier einen letzten Abhang hinauf.
Sie war nervös, in ihrem Magen lag ein dicker Kloß.
Was sollte sie tun, wenn Brock nicht auf sie wartete?
Was wäre, wenn er nun seine Meinung geändert hätte?
Was wäre, wenn... wenn er nur mit ihr spielte?
Das würde er nicht tun! Und dennoch, hatte es nicht eine Zeit gegeben, in der er ihr untreu gewesen war?
Sie biss die Zähne zusammen gegen den kalten Wind und die grimmigen Gedanken, die wie Geister durch ihren Kopf schwirrten, huschten und sie verfolgten.
Es ist nur die beginnende Nacht, die dich beunruhigt. Hab Vertrauen.
Aber die nagenden Zweifel wollten nicht weichen, während ihre Zähne klapperten und Royal, die kleine Stute, sich den Abhang hinaufquälte. Das temperamentvolle Pferd war nicht das Tier, auf dem sie normalerweise ritt. Elyn hatte sorgfältig ein Pferd gewählt, auf dem sie noch nie zuvor geritten war, eine Stute, die Kiera bevorzugte, eine, die nicht so schnell vermisst würde und die man, wenn man sie vermisste, nicht mit Elyn in Zusammenhang bringen würde. Das Schloss zu verlassen war schwierig gewesen, doch da sie sich als Bauernjunge verkleidet hatte, wie schon so oft zuvor in der Vergangenheit, wenn sie sich aus dem Schloss geschlichen hatte, um sich mit Brock zu treffen, war es ihr gelungen, sich an den Wachen vorbei zu mogeln. Sie waren beschäftigt gewesen mit dem Karren des Müllers, der im Schlamm stecken geblieben war, gerade noch innerhalb der Schlossmauern, deshalb hatten die Wachen ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick geschenkt.
Sie hatte keine Schwierigkeiten gehabt, das Pferd durch das offene Fallgatter zu führen, denn es war geschäftiger im Schloss gewesen als sonst, mehr Arbeiter, mehr Händler und mehr Besucher hatten sich schon zu frühester Stunde im Schlosshof gedrängt wegen der Hochzeit. Aber das Pferd würde sicherlich vermisst werden. Obwohl der alte Stallmeister Orson in letzter Zeit ein wenig schwerfällig wurde, so würde doch sein Sohn Joseph herausfinden, dass ein Tier fehlte, und er würde die Verantwortung dafür übernehmen müssen.
Elyn dachte an Joseph und verspürte den Anflug eines Schuldgefühls, denn sie wusste, dass der Stalljunge sie anbetete - und sie hatte ihn ungerührt für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt. Es war dumm von ihm, sich romantischen Gedanken hinzugeben, wenn es um sie ging. Und dennoch, so wie er sie anschaute, so wie er errötete, wenn sie ihn dabei erwischte, fand sie das schmeichelhaft, sogar herzerwärmend. Aber auch lächerlich. Bestimmt würde Joseph heute Abend in Schwierigkeiten stecken. Genau wie sein Vater Orson damals die Verantwortung hatte übernehmen
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