Der Mackenzie Coup
in einer an alltäglichen Wundern überreichen Welt bis zur Neige ausgekostet wurde. Er war hier glücklich, mit seinen Büchern und einem Glas Pfefferminztee. Kostbare Teppiche lagen, teilweise überlappend, auf dem Fußboden, und wertvolle Gemälde bedeckten einen großen Teil der verfügbaren Wandflächen. Er hatte kein Telefon, und er bekam keine Post. Dank dem Café am Ende der Straße hatte er Zugang zum Internet, nutzte es aber nur ein-, zweimal im Monat, um zu erfahren, was in Großbritannien so passierte. Dann googelte er nach Namen wie Mackenzie und Calloway, Westwater und Ransome. Er kannte sich mit Computern nicht gut genug aus, um wirklich sicher sein zu können, dass er dadurch nicht irgendwelche Spuren hinterließ – er erinnerte sich, einmal in einem Artikel gelesen zu haben, dass das FBI öffentliche Bibliotheken überwachte und die Namen von Personen notierte, die Sachen wie Mein Kampf oder The Anarchist Cookbook ausliehen. Er nahm nicht an, dass es im Internet diesbezüglich viel anders zuging, glaubte aber trotzdem, dass es das Risiko wert sei. Kenne deinen Feind und so …
Natürlich war es auch möglich, dass man ihn mittlerweile vergessen hatte, dass er von der Polizei als unauffindbar zu den Akten gelegt worden war. Und wenn die ihn nicht schnappen konnte, was sollten Amateure wie Mike und Calloway dann schon für eine Chance haben? Okay, Mike kannte sich mit Computern aus, aber Gissing bezweifelte, dass diese Kenntnisse auch heimliche Überwachung und Ähnliches einschlössen.
Die ersten paar Jahre war er allerdings nie zu lang an einem Ort geblieben. Er hatte sich falsche Pässe auf eine Vielzahl von Namen beschafft, die ihn Tausende gekostet hatten, aber jeden Cent wert gewesen waren – gleich, ob Euro oder Dollar. Eines der Gemälde, die in seinen Besitz gelangt waren, stammte von einem Künstler, den ein gewisser saudi-arabischer Geschäftsmann maßlos bewunderte. Als Gissing es mitgenommen hatte, war ihm diese Tatsache durchaus bekannt gewesen. Der Sammler hatte Gissing die Hälfte dessen bezahlt, was das Bild auf dem freien Markt wert war, und dafür zugesichert, dass es seine Privatgalerie niemals verlassen würde.
»Zu unser beider Sicherheit«, hatte Gissing ihm eingeschärft, »aber vor allem zu Ihrer eigenen.«
Der arabische Gentleman hatte verstanden und war über das Geschäft entzückt gewesen. Schon dieser eine Deal hatte Gissing gestattet, relativ standesgemäß zu reisen – nach Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland und schließlich nach Afrika. Er lebte jetzt seit vier Monaten in Tanger, hatte sich seine eingelagerten Sachen aber erst nachschicken lassen, als er sicher gewesen war, dass er dableiben würde. In den Cafés des Viertels kannte man ihn als »den Engländer« – ein Missverständnis, das aufzuklären er nicht für nötig hielt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, es außerdem mit viel Mühe geschafft, über zwanzig Kilo abzunehmen, und trug oft einen Panamahut und eine Sonnenbrille. Nur zu einigen wenigen Gelegenheiten hatte er sich gefragt, ob es das alles wert gewesen sei? Er befand sich schließlich auf der Flucht. Konnte nie nach Schottland zurückkehren, konnte niemals Freunde wiedersehen oder zusammen mit ihnen in einem anständigen Pub Whisky trinken, während es draußen regnete. Aber dann brauchte er sich nur eine Weile in die Betrachtung seiner Gemälde zu vertiefen, und ein seliges Lächeln verdrängte alle etwaigen Zweifel.
Die CD, die er sich gerade angehört hatte, erreichte das Ende und verstummte. Bach, in einer Einspielung von Glenn Gould. Er arbeitete sich systematisch durch das klassische Repertoire. Das Gleiche galt für die Literatur – er hatte sich geschworen, es ein weiteres Mal mit Proust zu versuchen und Tolstoi noch einmal zu lesen. Außerdem plante er, Latein und Griechisch zu lernen. Er schätzte, dass er vielleicht noch fünfzehn, zwanzig Jahre vor sich hatte, mehr als genug Zeit, um jeden Bissen, jeden Schluck, jeden Ton, jedes Wort und jeden Pinselstrich auszukosten. Tanger ähnelte in mancherlei Hinsicht Edinburgh: ein Dorf, das sich für eine Stadt auszugeben versuchte. Er war für seine Nachbarn und die Markthändler kein Fremder mehr. Der Eigentümer des Internetcafés hatte ihn einmal zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen. Die Straßenkinder leisteten sich ihre Späße mit ihm. Sie zogen ihn am Bart und zeigten lachend auf die Fliege, die er seit einiger Zeit trug. Er saß in Straßenlokalen,
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