Der männliche Makel: Roman (German Edition)
»Mum und Dad haben dich angebetet, dich vergöttert. Du warst ihr kleiner Sonnenschein …« Am liebsten würde ich hinzufügen, dass ich nur ihre Nebentochter war, doch irgendwie ist das nicht nötig. Wir brauchen es nicht auszusprechen. Sie weiß es ohnehin.
»Das ist mir klar, und glaube mir, ich hätte keine glücklichere Kindheit haben können. Trotzdem verstehst du nicht ganz. Denn egal, wie sehr man auch von seiner Familie geliebt wird, hinterlässt es eine Narbe, adoptiert zu sein. Man grübelt sehr viel. Überleg mal, die eigene Mutter, also die Person, die einen mehr als jeder andere in der Welt lieben und beschützen sollte, gibt einen weg. Man kommt auf die Welt und macht als Erstes die Erfahrung, zurückgewiesen zu werden. Deshalb musste ich einfach erfahren, warum. Außerdem sollte sie wissen, dass es mir gut ging und sich mein Leben positiv entwickelt hatte. Ich habe Jahre gebraucht, um den Mut dafür aufzubringen. Aber irgendwann habe ich beschlossen, Detektivin zu spielen. Natürlich habe ich es Mum gesagt. Ich würde lieber sterben, als etwas hinter ihrem Rücken zu tun. Doch sie hat verstanden, dass ich es unbedingt tun musste, und mich unglaublich dabei unterstützt. Sie hat mich sogar zur Adoptionsagentur begleitet.«
»Und …?«, stoße ich hervor. Die Schuldgefühle, weil ich nicht für sie da war und bis jetzt überhaupt nichts davon wusste, überschwemmen mich wie eine Welle.
»Es war zu spät. Meine leibliche Mutter war etwa zwei Jahre zuvor gestorben. Sie hatte Brustkrebs und war noch ziemlich jung, Anfang fünfzig. Als sie mich zur Welt gebracht hat, war sie erst sechzehn. Mein leiblicher Vater, ihr Freund, war kurz zuvor von einem Betrunkenen totgefahren worden. Aus diesem Grund wurde ich zur Adoption freigegeben. Wahrscheinlich hat sie getrauert und sich in ihrer Situation mit einem Baby überfordert gefühlt. Ich mache ihr keinen Vorwurf daraus und hätte unter diesen Umständen vermutlich das Gleiche getan. Sie war ja selbst noch ein Kind.
»Also hör bitte auf mich, Eloise«, sagt sie dann liebevoll, beugt sich vor und sieht mich eindringlich an. »Nun muss ich den Rest meines Lebens aushalten, dass ich zu spät gekommen bin. Dass ich, wenn ich schon Jahre früher versucht hätte, meine leibliche Mutter zu finden, sie vielleicht kennenlernen und eine persönliche Beziehung zu ihr hätte aufbauen können. Oder sie zumindest vor ihrem Tod noch einmal sehen. Doch ich habe es immer vor mir hergeschoben und muss jetzt mit dem ›Was wäre, wenn?‹ leben. Deshalb bitte ich dich, Lily nicht das zuzumuten, was ich durchgemacht habe. Es ist keine fixe Idee von ihr, dass sie ihren Dad finden will. Ebenso wenig wie bei mir damals, und das geht nicht einfach so weg. Also kümmere dich ihr zuliebe darum, solange noch Zeit ist. Sie hat ein Recht, es zu wissen. So wie ich damals. Unsere Mum hat mich bei der Suche nach der Wahrheit unterstützt. Warum tust du also nicht das Gleiche für Lily?«
Oh mein Gott, denke ich, als ich sie mitfühlend betrachte. Es ist schrecklich, was sie alles hat ertragen müssen. Könnte sie vielleicht recht haben? Hat Lily wirklich eine fixe Idee entwickelt, die erst wieder verschwinden wird, wenn sie ihren Dad kennenlernt? Ein schauerliches Bild nach dem anderen sehe ich vor Augen. Wie sie heute im Bus sitzt und den Fahrer fragt, ob er ihr Dad ist … sich überlegt, ob es vielleicht der Typ an der Supermarktkasse sein könnte … und nicht einmal in der Lage, sich einen harmlosen Film im Fernsehen anzuschauen, ohne von ihrem Dad zu träumen … Bilder von ihm zu malen. Wer weiß, was in ihrem Köpfchen vorgeht?
Helen kennt mich gut und spürt offenbar, dass ich ins Wanken gerate, denn im nächsten Moment sitzt sie in Buddhahaltung auf dem Sofa und macht, das blonde Haar ordentlich über die Schultern gebreitet, ein weises und ernsthaftes Gesicht.
»Bist du denn selbst überhaupt nicht neugierig?«, hakt sie nach. »Willst du gar nichts über ihn wissen? Schließlich muss er etwas draufhaben. Lily hat sicher nicht alles nur von dir geerbt. Schau sie doch nur an. So aufgeweckt und reif für ihr Alter, findest du nicht?«
Ich nicke, und der Stolz treibt mir aus heiterem Himmel die Tränen in die Augen. Lily ist hochintelligent, daran besteht kein Zweifel. Sie hat nie Babysprache benutzt, sondern die Wörter schon mit achtzehn Monaten klar und deutlich ausgesprochen. Mit zwei waren es sogar schon ganze Sätze wie bei einer richtigen jungen Dame. Sie lernt
Weitere Kostenlose Bücher