Der männliche Makel: Roman (German Edition)
wenig, schaue dann besorgt auf die Uhr und komme zu dem Schluss, dass ich hier nur meine Zeit verschwende und besser wieder in die Redaktion gehen sollte, bevor mich jemand vermisst. Aber dann nähert sich eine alte Frau mit Kopftuch. Sie stemmt sich gegen den Wind und zieht eine dieser karierten Einkaufstaschen auf Rädern hinter sich her, die alte Damen so lieben. Als sie mich bemerkt, bleibt sie ruckartig stehen.
»Wollen Sie zu Michelle, meine Liebe?«, fragt sie. Sie scheint meinetwegen wirklich besorgt, da ich mit meinem schwarzen Businesskostüm und dem Aktenkoffer nicht unbedingt in diese Reihenhaussiedlung passe.
Offenbar glaubt sie, dass ich hier bin, um einen Kreditvertrag zu kündigen.
»Verzeihung, haben Sie Michelle gesagt?«, erwidere ich. Michelle? Vielleicht Williams Freundin?
»Ja, das ist die Besitzerin von Nummer 24. Sie vermietet Zimmer, um sich etwas dazuzuverdienen. Nur Bargeld, aber das wissen Sie ja bestimmt.« Im nächsten Moment schlägt sie die Hand vor den Mund, als wäre ihr die Tragweite ihrer Worte eben erst bewusst geworden und als wolle sie sie nun unbedingt wieder zurücknehmen.
»Äh … Sie sind nicht zufällig vom Finanzamt?«
»Nein, bin ich nicht …«
»Denn als ich gesagt habe, dass sie nur Bargeld nimmt, habe ich es nicht so gemeint … ich wollte wirklich nicht …«
»Alles in Ordnung«, versichere ich ihr. Sie ist so starr vor Angst, dass ich mir ein Lächeln verkneifen muss. »Ich schwöre, dass ich nicht vom Finanzamt bin. Ich möchte nur jemanden finden, der früher einmal hier gewohnt hat oder vielleicht noch immer hier wohnt.«
»Hier geben sich die Mieter die Klinke in die Hand, gute Frau.«
»Ja, schon, aber ich suche jemand Bestimmten.«
»Dann sprechen Sie am besten mit Michelle. Doch um diese Uhrzeit ist sie nie zu Hause.«
»Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«
»Natürlich, meine Liebe. Inzwischen sicher bei der Arbeit. Sie geht immer früher hin, etwa um diese Zeit. Dort müssten Sie sie antreffen.«
»Und wo arbeitet sie?«
»Im Pub Widow Maguire. Das ist nur zehn Minuten von hier. Ihr Nachname ist Hughes.«
»Vielen Dank, Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Kein Problem.«
Wie auf ein Stichwort öffnet im nächsten Moment der Himmel seine Schleusen. Natürlich kann ich kein Taxi erwischen, weshalb ich aussehe wie eine getaufte Maus, als ich mich endlich aus dem Platzregen in den Pub flüchten kann. Obwohl es Dienstagabend ist, ist ziemlich viel los. Allerdings sind die Gäste mehrheitlich männlich und haben einen Altersdurchschnitt von etwa fünfundsiebzig.
Es ist wie in einem Western. Sobald ich hereinkomme, klatschnass und eine durchweichte Ausgabe der heutigen Post als Schirmersatz in der Hand, wenden sich mir alle Blicke zu. Und wenn mich nicht alles täuscht, lässt auch der Geräuschpegel nach. Raue Stimmen senken sich zu einem Flüstern, als mich alle begutachten. Offenbar falle ich wirklich unangenehm auf.
Wohl wissend, dass die Zeit läuft und ich auf schnellstem Wege zurück in die Redaktion muss, gehe ich auf die vollbusige Frau mittleren Alters mit der hochgegelten Igelfrisur zu, die hinter dem Tresen demonstrativ Biergläser poliert und mich dabei vom Scheitel bis zur Sohle mustert.
»Verzeihung, sind Sie zufällig Michelle Hughes?«
»Wer will das wissen?«, entgegnet sie abweisend. Sie beäugt mich argwöhnisch und verschränkt die Arme. Offenbar rechnet sie mit Schwierigkeiten.
Wieder spule ich mein Sprüchlein ab, ich sei von der Post und suche nur nach einem Mieter, der anscheinend bei ihr gewohnt hat. Einem gewissen William Goldsmith. Dabei lasse ich zwischen den Zeilen durchklingen, dass ich absolut gar nichts mit dem Finanzamt zu tun habe und mich auch nicht im Geringsten für die geschäftlichen Transaktionen unter ihrem Dach interessiere.
»William wer? Nein, definitiv nicht. Nie von ihm gehört«, entgegnet sie patzig, als sei das Gespräch für sie damit beendet, und wendet sich wieder ihren Gläsern zu.
»Ach, kommen Sie schon. An irgendwas müssen Sie sich doch noch erinnern. Alles wäre hilfreich. Ein großer Typ? Vermutlich blond? Blauäugig? Hat hier gleich um die Ecke im Trinity gearbeitet?«, flehe ich sie an. Nur für den Fall, dass sie davor zurückscheut, sich mir anzuvertrauen, füge ich hinzu: »Ich bin nicht von irgendeiner Behörde, und es steckt auch niemand in Schwierigkeiten. Ich muss ihn einfach nur finden, mehr nicht. Bitte. Jede Kleinigkeit würde mich weiterbringen.«
Dass sie sich nun
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