Der magische Wald
seine Schulter. Er spürte, wie sie zitterte. »Alles ist gut«, murmelte er. »Wir sind hier sicher.« Er hörte, wie der Regen etwas nachließ und wußte, daß der kritische Moment überstanden war. Mirkadys Geschenk war ein zweischneidiges Schwert, dachte er. »Paß auf, daß er nichts mit dem Essen macht«, murmelte Cat. »Ich habe Hunger.« »Es ist normales Essen, nicht gesegnet und unberührt«, sagte Bruder Nennian. »Eßt mit mir und seid willkommen, egal wer oder was ihr seid. Es gibt nicht so viele Reisende in diesem Teil der Welt, daß ich mir meine Gäste aussuchen könnte.« Er lächelte wieder, und der appetitliche Duft des Essens zog sich durch die Hütte. Rüben und Kohl waren in dem Eintopf, und dazu gab es Brot und Buttermilch. Sie aßen schweigend, während der Regen weiter nachließ. Der Nachmittag neigte sich seinem Ende entgegen. Sie hörten im Wald einen Wolf heulen, den ersten, seit sie die Fuchsleute verlassen hatten, und Michael fuhr aus Angst um die Pferde zusammen, aber Bruder Nennian schüttelte den Kopf. »Nichts wird den heiligen Bereich betreten, wenn ich es nicht will. Eure Tiere
— und die meinen — sind in Sicherheit.« »Wie kommt es, daß du allein so tief im Wald lebst? Besonders in diesem Wald.« Bruder Nennian kaute auf einem Stück Haferbrot. »Ich kam vor langer Zeit hierher, und ich war nicht allein. Ich hatte einen jungen Novizen bei mir, aber er hat mich verlassen. Wenn er noch lebt, müßte er jetzt wieder in den Wäldern der Menschen sein.« Michael erinnerte sich an die gefolterte Leiche, die er und Cat in der Nähe des Lagers der Fuchsleute gefunden hatten, sagte aber nichts. Er spürte den forschenden Blick des Bruders auf sich. »Warum gerade im Wolfswald?« »Ich bin allein hier, und ich liebe die großen Bäume. Es ist ein guter Ort zum Nachdenken. Außerdem habe ich lange versucht, das Schicksal einer Expedition zu ergründen, die vor langer Zeit hierher geschickt wurde. Manchmal streife ich durch die Wälder und suche nach Spuren. Hin und wieder habe ich alte Knochen gefunden, die nie begraben worden sind, sondern einfach so auf dem Waldboden lagen.« Bruder Nennian schien nicht die Absicht zu haben, weitere Erklärungen abzugeben, aber Michael war sicher, daß er ihnen nicht alles gesagt hatte. Da war noch etwas anderes, etwas, das den Mann hierhergebracht oder getrieben hatte. »Auch ihr seid tief im Wolfswald«, sagte der Bruder. »Und weit weg von zu Hause, wenn ich mich nicht irre.« Sein Blick glitt über Michaels Schwert. »Vielleicht.« »Zwei Dinge halten einen Mann hier am Leben. Glaube, oder der Zauber des Waldes. Ich frage mich oft, ob nicht beides ineinander übergeht. Schließlich wurde unser Herr an einem Baum gekreuzigt. Und zwei Möglichkeiten gibt es, weshalb ein Mann hierher kommt: entweder er flieht vor etwas, oder er verfolgt etwas. Auch diese beiden Dinge verschmelzen im Wolfswald miteinander; der Jäger wird zum Gejagten. Es ist ein seltsamer Ort. Die Wurzeln dieser Bäume reichen tief. Sie reichen bis zum Mittelpunkt der Erde.
Jemand, der mutig genug ist, danach zu suchen, und etwas Glück hat, kann hier Weisheit finden. Und Macht. Es gibt hier soviel Macht, daß die meisten der Bestien sie nicht ertragen können.« »Manche ertragen sie«, sagte Cat unerwartet. »Manche werden aus ihr geboren.« »Tatsächlich?« »Die Wyrims sagen, daß der Wald die Braut des Schwarzen Reiters ist, und daß sie seine Kinder und die der Bäume sind, ein Teil des Landes.« »Und du, mein Kind, was glaubst du, was du bist?« fragte der Bruder voller Anteilnahme. Cat sah ihn wütend an. »Ich habe dir gesagt, daß ich nichts bin. Ich bin das, was die Wyrims einen Halbling nennen, und die Dorfbewohner einen Wechselbalg.« »Es muß schwer sein, zwischen zwei Welten gefangen zu sein.«
Cat antwortete nicht. Sie senkte den Kopf zu der Schüssel mit Buttermilch. Der Bruder sah Michael an und blickte wieder auf das Ulfberht. »Wie ein Soldat siehst du aus, aber irgend etwas sagt mir, daß du keiner bist. Die Stämme haben immer noch etwas Soldatisches an sich: einen Stolz, eine Zähigkeit, den die Patrouillenritter nicht kennen ... Bist du unseren Patrouillenrittern schon einmal begegnet?« »Ich weiß von ihnen«, sagte Michael knapp. Er fing an, diesem heiligen Mann zu mißtrauen. »Sind unsere Antworten die Bezahlung für deine Gastfreundschaft?« Bruder Nennian schien ehrlich zerknirscht zu sein. »Vergebt mir. Ich stecke meine Nase in
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