Der Maler Gottes
mangelt es an zerstörerischer Kraft, der Hohn trifft nicht. Auch der Herr zeigt nicht seine wahre Größe. Das Duldende entspringt eher der Hilflosigkeit als der Überlegenheit, es setzt ihn sogar herab.«
Matthias hält inne, holt tief Luft, seine nächsten Sätze sind drängend, eindringlich. Ratgeb soll verstehen, was er meint.
»Die Figuren handeln wie Schauspieler auf einer Bühne. Sie stellen Erlebtes nach, aber sie erleben es nicht selbst. Es mangelt an Wirklichkeit. Versteht Ihr, was ich meine?«
Ratgeb schaut seinen Gehilfen lange an, sieht das Lodern in den dunklen Augen, sieht die pochende Ader an der Schläfe, spürt, wie sich der Druck auf seinen Arm verstärkt, hört die eindringlichen Worte: »Der Altar ist schön, großartig, gewaltig, aber niemand wird von ihm je sagen, die Menschen hätten davor gestanden und geweint.«
Jörg Ratgeb möchte ihm ins Wort fallen, seinen Reden Einhalt gebieten, doch die Leidenschaft, mit der der Jüngere spricht, lässt ihn schweigend zuhören. So hat er Matthias noch nie erlebt. Niemals hat der Junge so innig und so viel gesprochen. Matthias reckt das kantige, fliehende Kinn nach vorn wie ein Vogel und redet weiter, als er Ratgebs fragenden, verwunderten Blick sieht.
»Ein solcher Altar sollte alle Sinne in Aufruhr bringen, sollte aufrütteln, den Betrachter peinigen. Aber diese Bilder berühren die Sinne nur mit der Leichtigkeit einer Feder, streichen sanft und beschwichtigend über Auge, Ohr und Seele.«
Nein, Matthias wollte weder Ratgeb noch Holbein mit diesen Worten kränken. Er hat Hochachtung vor ihnen, bewundert das handwerkliche Geschick, von dem ihn noch Welten trennen. Doch Ratgeb ist gekränkt. Matthias spürt die Schmach im Versuch, ihn, den Jüngeren, den Gehilfen, der Lächerlichkeit preiszugeben. »Was, hoch gelobter, verehrter Meister Matthias aus Grünberg-Neustadt, hätte Hans Holbein Eurer Meinung nach besser machen müssen?«
Matthias schluckt schwer am Spott des Gesellen, senkt beschämt die Augen und antwortet leise, aber noch immer erregt. Seine schmalen Schultern beben, und der schmächtige Brustkorb hebt und senkt sich unter hastigen Atemstößen, als er vorsichtig sagt: »Es ist der Kampf des Bösen gegen das Gute, der hier nahezu müde und starr wirkt. Es mangelt an der sichtbaren Kraft, an der gnadenlosen Gegenüberstellung der Gegensätze von der Schlechtigkeit und Schuld der Menschen und der Liebe und Güte des Herrn. Lebendige Grausamkeit, vom Maler mit der gleichen Kraft auf Opfer und Henkersknechte verteilt…«
»Holbein ist kein grausamer Mensch«, unterbricht Ratgeb, noch bevor Matthias seinen Satz zu Ende sprechen kann, brüsk und mit so lauter Stimme, dass einige Arbeiter, die noch in der Werkstatt beschäftigt sind, erstaunt innehalten. »Holbein ist kein grausamer Mensch. Du selbst bist in den Genuss seiner Güte gekommen. Und wie dankst du sie ihm?«
Matthias duckt sich unter den lauten Worten. Er hat den Blick auf den Boden gerichtet, scharrt verlegen mit einem Fuß über den kalten Stein. Hat er in Ratgebs Augen eben noch hochmütig gewirkt, scheint er jetzt wieder scheu und in sich selbst zurückgezogen, hat sich mit der Schnelligkeit eines Lidschlages in den Gehilfen Matthias zurückverwandelt, so wie Ratgeb, wie alle anderen Mitarbeiter ihn kennen.
»Meister Holbein hat viel für mich getan«, murmelt er entschuldigend. »Gott weiß, dass ich ihm Dank schulde und dass es mir nicht darum ging, ihn herabzusetzen. Um das Leiden Christi ging es mir, um den Menschensohn, der es verdient, in der ganzen Größe seines Opfers dargestellt zu werden.«
»Die Größe unseres Herrn Jesu lässt sich nicht darstellen. Niemand kann das. Auch du nicht. Niemals. Gelänge dies, wäre es unmenschlich«, antwortet Ratgeb und verlässt voller Zorn und Empörung die Werkstatt. Matthias steht noch immer an derselben Stelle, sieht noch immer auf den Boden und denkt: Ich werde es schaffen. Eines Tages werde ich es schaffen und nicht eher ruhen, bis es gelingt.
Am nächsten Tag beginnt Matthias mit den Skizzen zu seinem Gesellenstück. Das Abendmahl will er malen, will versuchen, darin die Spannung zwischen Hingabe und Verrat zu zeigen. Beim Morgengrauen sitzt er schon am Mainhafen und beobachtet die Fischer. Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes waren Fischer gewesen, bevor sie von Jesus zu Menschenfischern gemacht wurden. So skizziert Matthias einige Fischer, wie sie ihren nächtlichen Fang an Land bringen und später noch einmal
Weitere Kostenlose Bücher