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Der Mann auf dem blauen Fahrrad

Der Mann auf dem blauen Fahrrad

Titel: Der Mann auf dem blauen Fahrrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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Irgendjemand ist der Türhüter.
    – Vielleicht ist er heute krank, meinte Irene.
    – Oder er hat womöglich etwas Wichtigeres zu tun.
    – Und das wäre?
    – Das ist nicht leicht zu sagen. Dem Hüttenwerksbesitzer fällt es nicht schwer, Aufgaben für alle zu finden, die offenbar mit den Händen in den Hosentaschen herumlaufen.
    Der extrem kleinwüchsige Mann hatte Golfhosen und Lederstiefel an. Dazu trug er eine adrette Weste, geziert mit einer Silberkette, die in die linke Westentasche hinein verschwand. Er arbeitet bestimmt im Stall, dachte Irene. Er sieht aus, als hätte er mit Pferden zu tun. Vielleicht ist er ein Jockey? Diese Stallvorsteher sind immer ein wenig feiner gekleidet. Es ist ihre Aufgabe, die Pferde gestriegelt und geschniegelt und angeschirrt und gesattelt zu den feinen Herrenhausdamen zu führen, die sich in eleganten, eng anliegenden Reithosen aus erstklassiger englischer Baumwolle auf den Sattel schwingen und mit einem plötzlichen Gefühl von Freiheit in der Brust auf eleganten Morgenritten verschwinden.
    Irene verspürte eine zunehmende Unruhe. Teils wollte sie endlich nach Västerås aufbrechen, um ihr neues Leben als Studentin im Lehrerinnenseminar zu beginnen, mit allem, was das an sozialem Fortschritt und erweiterten Möglichkeiten bedeutete, aber zugleich wollte sie sehr gern sehen, wie dieses Abenteuer verlaufen würde. Und sie hatte schließlich versprochen, dieses Etui zurückzugeben. Das Hüttenwerksbesitzer Stenhake bekommen sollte und niemand anders.
    – Bitte tretet ein, sagte der Herr in Reitstiefeln und Weste und hielt höflich die quietschende Metallzauntür auf.
    – Ist das der übliche Eingang?, fragte Irene.
    – Nein. Ganz und gar nicht. Es ist die Abkürzung über den Kraftwerksdamm. Aber hier darf nicht irgend jemand gehen. Normalerweise. Wäre nicht dieser Unfall da drüben am Bahnübergang gewesen, wärt ihr nicht hierhergekommen.

    – Aber wir wären vielleicht auf einem anderen Weg gekommen.
    – Woher soll man das wissen? Woher soll man wissen, was geschehen würde, wenn etwas anderes nicht geschehen wäre?
    – Natürlich. Ich verstehe. Oder vielleicht verstehe ich es auch nicht.
    Irene begann ein leichtes Schwindelgefühl zu verspüren. Ihr kam in den Sinn, dass sie den ganzen Morgen nichts außer einem Käsebrot gegessen hatte. Sie hatte es ja so eilig zum Zug gehabt. Ehe sich diese Sonderlichkeiten ereignet hatten. Die sie in ein immer fremderes Land zu führen schienen.
    – Nach meiner Auffassung, sagte der Herr, der nicht irgend jemand war, gibt es in einem normalen Menschenleben zwei große Probleme.
    – Und die wären?, fragte die Nichte des Schiffers.
    – Dass man nicht versteht.
    – Und das zweite?
    – Dass man allzu gut versteht.
    Bitte sehr, betreten Sie die Kraftwerksbrücke, meine Damen. Dies ist ein sehr viel kürzerer Weg. Fürchten Sie sich nicht vor dem Rauschen, das ist nur der Kolbäcksån, der mächtig, männlich, ausgelassen, frühlingshaft lüstern an den beiden erstklassigen ASEA-Turbinen herumfingert. An beiden zugleich. Und auf diese Weise hat man Licht für die ganze Gegend.
    – Danke, sagte Irene. Und errötete.
    – Wir haben uns leider verspätet, erklärte das eine Kreuzworträtselmädchen. Wir haben uns nicht an die Zeit gehalten. Irgendjemand ist vielleicht verärgert. Aber es ist wirklich nicht unsere Schuld.
    – Das ist bedauerlich, aber wir konnten hier nicht schneller gehen. Der Pfad ist nach dem letzten Frühlingsregen so verdammt lehmig geworden.
    Das zweite Kreuzworträtselmädchen hatte eine unglückliche Neigung, alles zu verdeutlichen, was die andere sagte. Auf die Dauer konnte das etwas langweilig werden.

Der Herrscher des weißen Hauses

    D ie Doppeltüren waren mächtig. Hier hätte man sicher mit Pferd und Wagen hereinfahren können. Sie waren aus dunkler, fast schwarzer Eiche, mit schweren Eisenbeschlägen. Aber Irene gab nicht auf. Sie und die Nichte des Schiffers hatten ja ein wichtiges Etui zu überreichen. Nach einigem Suchen hier und da, rauf und runter, links und rechts, fanden sie das, was wohl die Klingelschnur sein musste, eine Messingkette, die in einer Messinghand von menschlicher Größe endete. Irene kam sie unheimlich vor. Würde sie sich lösen, wenn man sie ergriff? Entschlossen packte sie diese Hand, blank von all den Händen, die sie offenbar schon angefasst hatten. Und zog daran, nicht einmal, sondern dreimal. Jedes Mal etwas energischer als das vorhergehende Mal. Eine Klingel, die

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