Der Mann aus Israel (German Edition)
Selbstverständlich durfte ich am Tisch sitzen
und warten, während er sich für uns beide an der Selbstbedienung anstellte. Er
bezahlte auch immer, war sehr großzügig und ging äußerst behutsam mit mir um.
Die ganze Woche über unternahm er keinen einzigen Annäherungsversuch. So etwas
hatte ich noch nie erlebt. Nicht dass die Männer nicht hinter mir her gewesen
wären. Aber das einzige, was sie an mir zu interessieren schien, war, mich
möglichst schnell in ihr Bett zu bekommen. Außerdem kam ich aus einer völlig
chaotischen Familie, so dass Lucius und seine selbstsichere Fürsorge mich
verständlicherweise vollkommen faszinierte. Endlich stand ich selbst im
Mittelpunkt des Interesses eines Menschen, noch dazu eines richtigen Schweizer
Gentleman. Das Hochgefühl hielt an. Lucius kehrte zu seinem Studium nach Basel
zurück, er besuchte mich oft in Frankfurt, wo ich mit meiner Familie lebte und
im achten Semester Klassische Archäologie studierte.
„Es ist schön, dass Du nicht ununterbrochen reden möchtest.“
sagt Raffael. Er hat es sich ebenfalls bequem gemacht auf unserer kleinen Sanddüne.
Hast Du eine Ahnung, denke ich, und wie ich rede. Nur, dass ich mir die
Geschichten selber erzähle. Er spielt mit meinen Haaren, wickelt sie sich um
die Finger. Ich rutsche noch ein wenig seinen Oberschenkel hinauf, der Stoff
seiner Jeans ist nicht geschmeidig, aber mir ist, als spürte ich sein pochendes
Fleisch darunter.
Mein armes Kind, begraben in der Schweiz, sagte mein Vater
nur, als Lucius ein Jahr später um meine Hand anhielt und trällerte den
Hochzeitsmarsch aus Lohengrin. Das war sein einziger Kommentar zu meinen
Zukunftsplänen. Ihn interessierte nur Richard Wagner, ihn hatte er ständig im
Sinn, er war das Leitmotiv unseres Familienlebens. Noch heute kann ich
sämtliche Wagner-Opern auswendig. Kaum betrat mein Vater des Abends die
Wohnung, rief er „Aufstellung, meine Mädchen, heute habe ich Lust auf Tannhäuser.“ Noch in Hut und Mantel, nahm er einen Besen aus dem Schrank, er diente ihm als
des Büßers Stab, und überlegte kurz. „Erster Akt, zweite Szene.“ rief er dann
etwa, und wir wussten Bescheid: Isolde, Elsa, Sieglinde und ich, Elisabeth,
Vaters vier Töchter. Er hatte uns nach seinen Lieblingsheldinnnen aus Wagners
Opern genannt. Elisabeth liebte er wohl am wenigstens von den Vieren, denn er
nannte seine Kleinste nach ihr. Das war mein Glück, Elisabeth ist ja ein
durchaus neutraler Name. Als Isolde wäre mein Leben sicher um einiges
komplizierter geworden.
„Erster Akt, zweite Szene.“ Nach diesem väterlichen Kommando
nahmen wir Aufstellung. Tannhäuser war gerade der Liebesgöttin Venus
entflohen und zurück auf die Erde gekommen. Er liegt im Gras und wird vom
Läuten der Schafglöckchen begrüßt und von einem Hirtenknaben, der auf der Flöte
spielt und dann singt. Frau Holda kam aus dem Berg hervor, zu ziehn durch
Fluren und Auen. Der Hirte war immer ich. Ich hasste diese Rolle, den
albernen Tiroler Hut, den ich dabei tragen musste, hasste ich auch. Ich war ein
Backfisch und hätte so gerne Frau Venus gesungen, die große Verführerin
mit dem tollen Dekolleté. Oder Kundry, die abgründig Geheimnisvolle im Parsival. Vater lachte jedes Mal über meine Wünsche. „Mädchen, für diese Rollen müssen
Dir erst die Brüste sprießen. Eine Venus ohne prachtvollen Busen - wie stellst
Du Dir das vor.“ Immer musste ich die unattraktivsten Partien übernehmen: Im Holländer war ich der Matrose, der eingeschlafen war, im Tristan war ich auch
nur gut genug für den Seemann im ersten Akt. Im Lohengrin war ich das
weibliche Gefolge, in den Meistersingern war ich Evchens Dienerin Lene . Alle diese Rollen fand ich doof und uninteressant. Die einzige
Partie, die ich wirklich liebte, waren die Freudenmädchen im Parsival. Da war ich nämlich alle Freudenmädchen auf einmal, durfte mit den Hüften
schaukeln und Parsival umgarnen, im Sopran, im Mezzo und im Alt. Aber
heute war ich wieder Hirtenknabe. Ich trällerte also auf einer imaginären Flöte
und sang Glück auf! Glück auf nach Rom! Betet für meine arme Seele! Meine
Schwestern fielen dann als vierstimmiger Pilgerchor ein. Zu Dir wall`ich
mein Jesus Christ. Ich habe nie verstanden, was das heißen soll Dir
wall`ich . Meine Schwestern anscheinend schon, denn sie sangen es sehr
gottesfürchtig und voller Inbrunst. Dann kam Tannhäusers Ruf Allmächt`ger
Dir sei Preis. Das spieltenwir immer im Treppenhaus, weil es sich
da schön auf- und
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