Der Mann aus Israel (German Edition)
Ordnung.“ Sie lächelt mich freundlich an. Ihr
Hebräisch ist noch schlechter als meines. Ein harter russischer Akzent dringt
durch.
Als erstes reiße ich die Vorhänge in meinem Zimmer auf und
gehe hinaus auf den Balkon. Mein Gott, denke ich, in einer solchen Nacht bin
ich allein. Der Mond steht genau über der goldenen Kuppel des Felsendoms,
Milliarden von Sternen leuchten in der dunklen Nacht. Die Luft ist mild. Für
einen Moment schließe ich die Augen und sofort spüre ich Raffis Körper, seine
weichen Hände und seine warme Haut. Ich fühle seinen Blick, der von meinen
Augen zu meinem Mund wandert. Mir wird heiß und die Begierde nach seinem Kuss
lässt mich den Mund ganz leicht öffnen. Ich will ihn anschauen und mache die
Augen auf und sehe mich alleine auf dem Balkon stehen. Scheiße, fluche ich
verzweifelt. Ich drehe mich um und gehe hinein. Das Radio läuft, irgendjemand
erzählt von den Reparationszahlungen der Deutschen an die Israelis.
Hundertzwanzig Millionen Mark werden es bis ins Jahr 2030 sein, Geld für
enteigneten jüdischen Besitz, der, wie die Stimme am Radio sagt, in deutschen
Händen verblieben war. Rein rechnerisch, klingt es kühl aus dem Radio, ergeben
sich Hundertzwanzig Millionen Mark für sechs Millionen tote Juden.
Zwanzigtausend Mark pro Toten. Für den deutschen Reparationszahler sind das,
wenn von sechzig Millionen Deutschen ausgegangen wird, fünfundsiebzig Jahre
lang sechsundzwanzig Mark pro Jahr, das heißt fünfzig Pfennig die Woche pro
Zahler.
Für historische Mathematik habe ich jetzt gerade keinen Sinn
und drehe am Radio herum. Auf allen Sendern Schabat- Programm mit frommen
Liedern, Gebeten und am klassischen zeitgenössische Musik von Philip Glass.
Auch nicht mein Geschmack. Ich hole mir meinen Kassettenrecorder und lege
meinen Travel-Mix Nummer 3 auf, bits and pieces meiner
Lieblingsmusikstücke. Ich drücke auf play und höre das Rascher-Quartett
mit Bachs Singet dem Herrn ein neues Lied für vier Saxophone. Bei diesen
reinen, schnörkellosen Tönen geht es mir sofort besser. Ich atme tief durch und
setze mich für einen Moment auf den kleinen, zierlichen Sessel mit den
gedrechselten Beinen. Auf meinem Couchtischchen steht ein Schokoladenkuchen mit
der Aufschrift Schabat Schalom, in der Vase sind frische Blumen, gelbe
Rosen, und daneben ein Silberkörbchen mit Kiwis, Orangen, Feigen, frischen
Datteln und Äpfeln. Ich nehme mir eine Dattel und gehe ins Bad unter die
Dusche. Ich versuche, meine Gedanken einfach auszuschalten, ein Weiterdenken
nicht zuzulassen, ich zwinge mich, die Maschine in meinem Kopf abzudrehen,
abzuwürgen. Es gelingt mir nicht, ich bin verwirrt und traurig.
Es ist jetzt gleich zehn Uhr, rede ich auf mich ein, in ein
paar Minuten liegst Du im Bett und wenn Du aufwachst, ist ein neuer Tag. Leave
tomorrow for tomorrow, Elisabeth wie die Araber mir raten, wenn ich nervös
und angespannt Tage im Voraus aufs Genaueste plane und durchrechne. Erwarte
nichts, lass` es einfach auf Dich zukommen. Sobald die Sonne wieder aufgehen
wird, wird Deine Vitalität zurückkehren. Der Nacht gehört die Melancholie.
Ich creme mich sorgfältig ein, Arme, Beine, Bauch, hinten
und vorne, es duftet im Bad. Ich putze die Zähne, spritze Parfum auf meinen
Hals und auf mein Bett. Du bist wie ein Hund, der sein Revier markiert sagt
Lucius, wenn ich mit der Venezia- Flasche anrücke und fremde Kopfkissen
mit „meinem“ Duft einhülle. Noch eine kleine Zigarette, denke ich, dann lege
ich mich hin. Ich nehme ein Glas Rotwein, zünde mir die Zigarette an und gehe
hinaus auf den Balkon. Ich habe nur einen leichten Bademantel an und trotzdem
ist es warm an der Luft, weich umstreichelt mich ein leichter Wind. Ich fühle
mich elend. So habe ich mir das nicht vorgestellt , hatte Otto Guttmann
gesagt. Ich auch nicht, denke ich. Am Ende bleibt man immer alleine und
verlassen, mit schmalen Lippen und verkrampften Händen. Ob Brecht recht hatte,
wenn er Galileo sagen lässt, dass Unglück auf mangelnde Berechnung
zurückzuführen sei? Ich ziehe an meiner Zigarette. Wo habe ich mich verrechnet?
Was habe ich schlecht kalkuliert? Ist es möglich, das Leben wie eine
Schachpartie schrittchenweise vorzudenken?
Ich höre ein Klopfen an meiner Tür. Das wird diese dusselige
Ludmilla sein, denke ich, die sicher noch einmal meine Bettdecke zurechtzupfen
will. Aber ich habe keine Lust, sie zu sehen. Niemanden will ich jetzt sehen.
Ich werde einfach nicht aufmachen, vielleicht haut sie
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