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Der Mann, der nicht geboren wurde

Der Mann, der nicht geboren wurde

Titel: Der Mann, der nicht geboren wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Nachthemdes war.
    Â»Hier. Zieht Euch einfach meinen Umhang um die Schultern. So.«
Weraly zupfte an Rodraeg herum, bis er mit dessen dunkelblauem und samtig
schimmerndem Umriss zufrieden war.
    Lautlos schlichen sie weiter, durch Gänge, die Rodraeg noch nicht
kannte, zu einer Treppe, die nach oben und draußen führte. Oben war ein
weiterer Posten stationiert. Weraly ging zu diesem Posten und verwickelte ihn
in ein kurzes Gespräch.
    Â»Warum steht hier denn nur ein einziger Mann auf Wache? Ist dir denn
nicht bewusst, Kerl, dass in dieser Stadt ein Zustand höchster Unruhe
herrscht?«
    Â»Aber … aber … aber … der Leutnant hatte gesagt, wir haben so viele
Leute für Emmeron Uliseus eingeteilt, dass wir …«
    Â»Wenn ich Entschuldigungen hören wollte, Kerl, wäre ich
Steuereintreiber geworden und nicht Gardist! Und jetzt geh und melde deinem
Leutnant, dass der alte Oberst Weraly aus Aldava einen zweiten Mann für diesen
Posten fordert. Inzwischen werde ich hier Wache
halten.«
    Â»Ja … jawohl, Oberst Weraly.«
    Der Posten eilte davon, während Weraly wieder eine heldisch wachsame
Körperhaltung einnahm. Als der Posten außer Sicht war, winkte Weraly Rodraeg zu
sich heraus.
    So kam Rodraeg durch einen Nebeneingang unter freien Himmel. Die
Exerzier- und Übungshöfe waren nächtlich verwaist. Bittsteller aus der Stadt
gab es zu dieser Stunde auch keine. Dazu noch die Gardistenknappheit – all dies
begünstigte Rodraegs Flucht.
    Der alte Oberst ermahnte Rodraeg dazu, ganz normal und langsam neben
ihm herzugehen, dann würde niemand Verdacht schöpfen. Es gab etliche Menschen
in der Stadt mit robenartigen Gewändern, Priester zum Beispiel. Außerdem war
der Gardeumhang aus teurem Zwirn und sah eher Ehrfurcht gebietend als
argwohnerregend aus, fand Weraly.
    Während sie einen spärlich beleuchteten Innenhof nach dem anderen
überquerten, rechnete Rodraeg dennoch die ganze Zeit über damit, kontrolliert,
von einem oberen Stockwerk aus mit Armbrustbolzen beschossen oder auch einfach
nur mit einem barschen »He, ihr da!« zum Halten gebracht zu werden. Doch
Weralys Plan ging so weit auf. Blieb nur noch das nördliche Geländetor.
    Aber auch hier stand lediglich eine einzige Gardistin, und Weraly
wurde diese eifrig salutierende, schon ältere Frau mit demselben Trick los wie
den jungen Burschen am Seiteneingang zu den Kerkern. Neben dem forsch
ausschreitenden Veteranen durchquerte Rodraeg stolperig das gut befestigte
Garnisonsgeländetor und gelangte tatsächlich unbehelligt ins Freie.
    Â»Vorsicht jetzt, nicht übermütig werden«, warnte ihn Weraly.
»Innerhalb der Stadtgrenzen wird gut patrouilliert. Behaltet Euren gemessenen
Schritt bei.«
    Als sie die Straße nach Uderun erreichten und auf dieser Warchaim
hinter sich ließen, funkelte linkerhand das auch nachts stets emsige
Helelehaus. Erst als das Dunkel der umgebenden Nacht die Lichter der Stadt
hinter ihnen bis auf Faustgröße zusammengeballt hatte, wagte Rodraeg wieder
richtig Atem zu holen.
    Â»Jetzt bin ich also ein Geächteter«, stellte er fest.
    Â»Fürs Erste«, erwiderte Trenc Weraly. »Ich werde Euch einen
schriftlichen Bericht aushändigen. Mein Testament, sozusagen. Bei sich
bietender Gelegenheit könnt Ihr diesen dann mithilfe eines geschickten
Advokaten zu Euren Gunsten vorbringen.«
    Wer sollte dieser »geschickte Advokat« denn sein? Baladesar? Sollte
Rodraeg auch ihn mit hineinziehen in das ganze Unglück, auch diese Familie mit
sich hinabreißen in den klaffenden, schneeumtosten Abgrund?
    Den Rest des Weges schwieg Rodraeg. Er brachte einfach gar nichts
mehr heraus. Zu übervoll war sein Herz, zu schwer beladen seine Seele, um durch
flüchtige Worte noch Entlastung schaffen zu können.
    Ihm war, als hätte er einen Verrat begangen, indem er sich seiner
Verantwortung entzog und lebte. Estéron, Ilde Hagelfels und auch Eljazokad
waren tot. Welches Recht besaß Rodraeg, sie alle zu überleben?
    Was würde Naenn, Cajin, Bestar und Nemialé noch blühen? Würde auch
ihnen ein greiser Oberst erscheinen und sie hinunterführen von der Blutbühne
hinter die nächtlichen Kulissen des großen Trauerspiels? Wohl kaum. Wieder
einmal hatte Rodraeg sich als privilegiert erwiesen. Während Eljazokad, Estéron
und die Hagelfels einfach nur so hingemordet wurden, wurde er, Sohn

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