Der Mann im Park: Roman (German Edition)
fuhr fort: »Wie lange ist Ingrid am Sonntag bei Ihnen gewesen?«
»Das haben wir doch bereits gesagt …«
Stierna unterbrach sie höflich.
»Bitte sagen Sie es mir noch einmal. Es wird auch nur ein paar Minuten dauern.«
»Ingrid war am Sonntagabend hier. Sie wollte Aufgaben für die Schule abholen, die Anna hatte. Ja, Anna, meine Tochter. Die beiden waren gute Freundinnen. Es hat sie schwer mitgenommen. Sehr schwer.«
»Das kann ich mir denken. Zu welcher Zeit war das? Dass Ingrid zu Ihnen gekommen ist?«
»Sie ist wohl so zwischen halb neun und neun gekommen und höchstens eine Viertelstunde geblieben, es war ja schon spät.«
»Und während dieser Zeit, was hat Ingrid da getan?«
»Nichts Besonderes. Mit meiner Tochter geredet. Auch ein wenig mit mir und meinem Mann.«
»Sie hat nichts bei Ihnen gegessen?«
»Nein, sie hat nichts bei uns gegessen. Warum sollte sie?«
»Keine Erdbeeren?«
»Erdbeeren? Nein, es ist lange her, dass wir Erdbeeren hatten. Warum sollte sie noch so spät Erdbeeren essen?«
Stierna schwieg eine Weile.
»Wie ist Ihnen Ingrid vorgekommen?«, fragte er schließlich.
Die Frau am Telefon schien verwundert zu sein.
»Wie sie uns vorgekommen ist? Wie meinen Sie das, Herr Kommissar?«
»War sie ein glückliches Kind? Schien es ihr gut zu gehen? Fühlte sie sich sicher?«
»Ja, sie war bestimmt ein glückliches Kind. Obwohl sie keinen Vater hatte. Aber ihre Mutter, also die hat sich wirklich um sie gekümmert. Ingrid war immer ordentlich und sauber gekleidet. Obwohl ihre Mutter nicht gerade reich ist.«
»Ich verstehe. Dann möchte ich Sie nicht länger stören, Frau Ekström. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Keine Ursache. Ach, Herr Kommissar, wissen Sie, wie es Maria geht … ich meine, Fräulein Bengtsson? Ich habe versucht, sie heute anzurufen, aber niemand ist ans Telefon gegangen.«
»Ich denke, Sie sollten ihr ein wenig Zeit lassen.«
Stierna beendete das Gespräch und legte auf.
Wer hat dir die Erdbeeren gegeben, Ingrid?, fragte er sich. Eigentlich war er sich fast sicher, wie die Antwort lautete. Der Mörder. Ingrid Bengtsson war am frühen Morgen des dritten September erschlagen worden. Eventuell in der Nacht des zweiten. Warum war es zu dem Zeitpunkt geschehen? War das Zufall, oder gab es etwas, das ihn gerade an diesem Wochenende dazu verleitet hatte? Gab es einen auslösenden Faktor, etwas, das ihn dazu gebracht hatte, ausgerechnet zu dieser Zeit zu töten, als der Sommer in den Herbst überging?
Stierna wusste, dass es oft einen Auslöser gab, dass einem Mord ein Druck vorausging, erschütternde Ereignisse, die unerbittlich das Rad in Bewegung setzten. Er fragte sich, ob wohl etwas Besonderes im Leben des Mörders geschehen war, bevor Ingrid Bengtsson erschlagen wurde.
19
Der Mann, der vor Roland Lindberg saß, war aufgeschwemmt und hatte schütteres Haar. Sonst sah er eigentlich ganz passabel aus.
»Sie wissen, warum Sie hier sind?«, fragte Lindberg.
Anton Bladh redete langsam und polternd. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und verzog keine Miene, obwohl ihm doch der Ernst der Situation klar sein musste. Immer wieder zögerte er einige Sekunden, bevor er antwortete. Selbst bei einer so einfachen Frage wie: »Sie wissen, warum Sie hier sind?« Und Lindberg war sich sicher, dass Bladh wusste, warum er hier war. Trotzdem war er nur schwer zu fassen. Offensichtlich taktierte er.
»Irgendwie geht es um ein Mädchen«, sagte Bladh nach einer Weile und zuckte mit den Schultern. »Denke ich mir.«
Lindberg seufzte leise und schlug seinen Notizblock auf. Er dachte an all die Informationen, die in den Unterlagen standen. Die Angaben, die sie über Bladhs erbärmliche Kindheit in Enköping hatten. Über die ersten zehn Jahre mit einem trunksüchtigen Vater, der ihn und die Mutter schlug. Über die verschiedenen Betreuungsstationen, in denen er untergebracht worden war, bis er sechzehn wurde.
Über die frühen Vergehen. Kleine Diebstähle, nachdem er als Siebzehnjähriger nach Stockholm gekommen war. Mit einundzwanzig vom Stockholmer Stadtgericht wegen Körperverletzung zu sieben Tagessätzen à zwei Kronen verurteilt. Dann war er immer weiter abgerutscht. Ein paar Fälle von Exhibitionismus. Belästigung kleiner Mädchen. Und dann eines Tages im April 1920 die Vergewaltigung eines kleinen Mädchens. Wofür er verurteilt und nach Långholmen geschickt worden war.
Heute war Bladh zweiunddreißig. Seit anderthalb Jahren war er auf freiem Fuß.
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