Der Mann im Schatten - Thriller
Shauna eine Menschenfreundin?« Der Einwurf
stammte von Marie, unserer Assistentin, die nicht einmal aufblickte. Marie ist eine junge Blondine, die vor drei Jahren ihren Abschluss in Archäologie gemacht hat und uns ständig daran erinnert, dass sie sofort fristlos kündigt, wenn sie: (a) einen Job in ihrem Fachgebiet findet, was jedoch sehr unwahrscheinlich ist, da wir hier im Mittleren Westen leben und in dieser Gegend ausschließlich Leichen von Mafia-Spitzeln unter der Erde liegen, oder sie (b) der ständigen Überbeanspruchung von unserer Seite überdrüssig ist, die sie jedoch in Wahrheit ziemlich genießt.
Als ich mein Büro betrat, bemerkte ich auf einem der Stühle vor meinem Schreibtisch einen brandneuen, braunen Lederaktenkoffer. Wie Marie mir erklärte, hatte ihn mein neuer Freund Mr Smith gleich als Erstes am Morgen vorbeigebracht. Ich ließ den goldenen Verschluss aufschnappen und zählte zehntausend Dollar. In der Tat ein stattlicher Vorschuss, aber dass er bar ausbezahlt wurde, war ungewöhnlich. Offenbar wollte Smith vermeiden, dass ich durch einen Scheck Rückschlüsse auf seine Person ziehen konnte.
Ich ließ mich in meinen Stuhl fallen und blickte auf die Uhr. In Kürze erwartete ich einen Klienten zu einer Besprechung. Ronnie Dice war der zweite Mandant, den ich als viel zu voreilig wiedergeborener Solo-Anwalt vertrat. So wie ich es einschätzte, war er ein eher harmloser kleiner Gauner. Als Jugendlicher hatte er Leuten in Bussen die Brieftaschen gemopst, solche Dinge. Als er zu mir kam, ging es dann allerdings schon um ein Waffendelikt. Ronnie war zufällig in der Nähe, als in der South Side eine Schlägerei tobte. Und als zwei Streifenwagen erschienen, um die Streithähne zu trennen, zog Ronnie es vor, das Weite zu suchen. Leider ist überstürzte Flucht nur selten ein Anzeichen für Unschuld, also beschloss
einer der Cops, Mr Dice ein paar Fragen zu stellen und heftete sich an seine Fersen.
Das nur als kleiner Tipp, wenn ein Cop auftaucht: besser nie wegrennen. Er schöpft automatisch Verdacht.
Sie schnappten sich Ronnie und fanden bei ihm eine nicht registrierte Waffe. Man klagte ihn auf Ebene des Staates an, ohne die Bundesbehörden einzuschalten. Ich versuchte, die Waffe als unzulässiges Beweismittel auszuschließen, da die Cops keine hinreichenden Verdachtsmomente für eine Durchsuchung hatten. Ohne Erfolg. Im Prozess argumentierte ich dann, die weißen Cops hätten dem schwarzen Angeklagten die Waffe untergeschoben. Damit zielte ich besonders auf zwei schwarze Geschworene ab. Die Jury urteilte schließlich acht zu vier, was bedeutete, dass vier Geschworene begründete Zweifel an der Schuld meines Mandanten hatten.
Der Staatsanwalt kündigte Revision an, aber die Richterin gab ihm zu verstehen, sie sei dieser Idee gegenüber nicht unbedingt positiv eingestellt. Womit sie ihm auf höfliche Art mitteilte, dass sie nicht vorhatte, drei weitere wertvolle Tage mit diesem lächerlichen Fall zu vergeuden. Ich hatte beim ersten Durchgang Glück mit den Geschworenen gehabt, und die Chancen, dass Ronnie bei einer erneuten Verhandlung ungeschoren davonkam, waren eher gering. Also erklärte ich der Richterin, mir hätten die Aussagen der Polizisten während des Prozesses neue Argumente für die Unzulässigkeit des Hauptbeweismittels geliefert. Außerdem bot ich ihr an, mein Mandant werde sich des Widerstands gegen eine polizeiliche Identitätsfeststellung schuldig bekennen, vorausgesetzt, es käme zu keiner Wiederaufnahme des Verfahrens. Daraufhin erklärte die Richterin dem Ankläger, sie werde meinen Antrag auf Unzulässigkeit des Hauptbeweismittels unterstützen, falls der
Staat in Revision ging, und zwang ihm damit mein Angebot förmlich auf.
Als ich Ronnie von dem Deal erzählte, führte er sich auf, als müsste er auf den elektrischen Stuhl. Aber ich glaube, insgeheim war ihm klar, dass er alles in allem ziemlich billig weggekommen war. Insbesondere, weil er mich um mein Honorar betrogen hatte. Ronnie Dice hatte mich die wichtigste Regel im Leben eines Strafanwalts gelehrt: Kassier dein Honorar immer im Voraus.
Um Viertel vor elf spazierte Ronnie Dice schließlich in mein Büro. Als ich ihn auf die Verspätung hinwies, hielt er das offensichtlich für einen Witz. Ronnie trug die gleichen Kleider wie bei seinem ersten Besuch, ein graues Kapuzenshirt, abgewetzte Jeans und Turnschuhe. In seinem Blick war etwas Kindliches, das mich schmerzlich berührte. Wie so oft bei meinen Mandanten
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