Der Mann im Schatten - Thriller
Menge Geheimnisse mit ins Grab genommen.
Um mich herum herrschte Chaos. Attraktive Frauen und durchschnittlich aussehende Männer posierten vor Kameras und sprachen eindringlich in Mikros. Eltern parkten, wo immer sie einen freien Platz entdeckten, und stürmten zur Schule, um ihre Kinder einzusammeln. Polizisten aller Art - lokale Streifenbeamte, Sherriff’s Deputies, Spuren techniker - wuselten umher.
Bei einer dieser Leichen handelte es sich ohne Zweifel um Audrey Cutler. Ich wusste nicht, wie ich darüber denken sollte. Natürlich, sie war schon lange Zeit tot, aber vielleicht
konnten ihre sterblichen Überreste jetzt neben ihrer Mutter bestattet werden. Womöglich war das eine Art Trost für Sammy. Familien wollten immer die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu sich holen, als ob das nach dem Tod eines Menschen irgendeine Bedeutung hätte.
Mein Handy klingelte, die Nummer des Anrufers war unterdrückt.
»Vier Leichen«, teilte Carruthers mir mit. Er war leicht außer Atem. Vermutlich eine Mischung aus körperlicher Anstrengung und Aufregung. »Vier Kinder.«
»Ich bin ganz in der Nähe«, erklärte ich.
»Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Sie haben hier nichts verloren. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Ich war zwar nicht aus dem Büro gekommen, aber es war keine schlechte Idee, mich wieder mal dort blicken zu lassen. Es schien ein guter Zeitpunkt, um endlich aufzuwachen.
Während ich mich langsam durch die ständig anwachsende Menge von Schaulustigen schob, dachte ich über die neusten Entwicklungen nach. Vier Kinder, vermutlich missbraucht und mit hoher Wahrscheinlichkeit von Griffin Perlini ermordet. In diesem Moment hoffte ich, es gäbe einen Gott, was aber natürlich auch die Existenz Satans voraussetzte. Als Kind hatte ich mich immer an der Idee eines allmächtigen Gottes gestört, ebenso wie an der Vorstellung eines Himmels und eines höllischen Sendboten. In dieser Schwarzweißmalerei fehlten mir die Zwischentöne. Ich weiß noch, wie ich den Priester in der Schule mit Fragen bombardierte: Was passiert, wenn man auf dem Weg zur Beichte von einem Lastwagen überfahren wird? Kommt man dann in den Himmel? Was ist, wenn man selber sein Handeln für richtig hält, Gott aber nicht? Muss man trotzdem bereuen? Diese Priester, die eindeutiges SchwarzWeiß
dem unscharfen Grau vorzogen, trieben meine Fragen zur Verzweiflung, und ich warte bis zum heutigen Tag immer noch vergeblich auf Antworten.
Du siehst sie zum ersten Mal. Sie ist in ein rosa Deckchen gehüllt, und irgendwie haben sie es geschafft, in dem spärlichen Flaum auf ihrem eierförmigen Köpfchen eine kleine Haarspange zu befestigen. Ihr Teint ist leicht gelblich - gelbsüchtig, sagen die Erwachsenen -, und aus ihrem Mund dringt nur kehliges Schreien. Sie schreit, sie saugt an der Brust ihrer Mutter, sie pupst, und sie pinkelt. Die Erwachsenen lassen dich jetzt in ihre Nähe - aber fass sie nicht an, ermahnen sie dich -, und du hältst dein Gesicht dicht über ihres. Ihre Augen können noch nichts richtig fixieren. Sie riecht nach Babycreme. Alle behaupten, sie sieht genauso aus wie Mary - Mrs Cutler -, aber du findest, dass sie mehr einem verschrumpelten alten Mann ähnelt.
Hallo, Audrey, begrüßt du sie scherzhaft. Schön, dich kennenzulernen.
Sammy ist in diesem Sommer nicht mehr so viel draußen. Er verbringt viel Zeit mir ihr. Ab Juli kann Audrey richtiges Essen zu sich nehmen. Du siehst zu, wie Sammy sie füttert. Zärtlich legt er eine Hand hinter ihren noch etwas wackligen Kopf und führt einen grünen Plastiklöffel an ihren Mund. Schön essen, sagt er und imitiert dabei den Tonfall seiner Mutter. Zwischen Sammy und dir hat sich etwas verändert. Ein Teil von ihm ist jetzt immer mit seiner Schwester beschäftigt. Er verhält sich viel ruhiger in ihrer Gegenwart, hat immer ein wachsames Auge auf sie, ist sofort zur Stelle, wenn sie schreit oder das Gleichgewicht verliert und zur Seite kippt.
Du bist auch meine kleine Schwester, erklärst du ihr im darauffolgenden
Winter. Sie stößt einen Laut aus - eh-bäh -, packt ein Büschel deiner Haare und zerrt daran. Es macht dir nichts aus. Du lachst. Sie will dir nicht wehtun, erklärt dir Sammy. Du weißt das. Und du begreifst, dass auch du für Audrey jemand Besonderes bist. Sie ist noch zu klein, um fremde Menschen zu mögen. Sie fängt sofort an zu schreien, wenn jemand um sie ist, der nicht zu den Cutlers oder zu deiner Familie gehört. Sie lässt dein Haar los, und du
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