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Der Mann ohne Vergangenheit

Der Mann ohne Vergangenheit

Titel: Der Mann ohne Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles L Harness
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hervortretenden Augenbrauen, die großen dunklen Augen, die beinahe mädchenhaften Lippen – jawohl, er kannte dieses Gesicht sehr gut.
    Es war sein eigenes.



 
6
Eine wahrhaft kaiserliche Zuflucht
     
    Wie eine Statue gegen ein Marmorgesimse gedrückt, auf einem Bein balancierend, die stählernen Fingerspitzen gegen die kalte Steinoberfläche gepreßt, starrte Alar eine Stunde später durch ein Fenster.
    Die Frau war etwa in seinem Alter, und sie trug ein weißes Abendkleid von wunderbar weicher Pracht. Das lange blauschwarze Haar fiel ihr, mit dezenten Goldnetzen geschmückt, in einem breiten Band über die linke Brust herab.
    Ihr Kopf schien unnatürlich groß zu sein, darin ähnelte er dem seinen, mit großen schwarzen Augen, die ihn eingehend musterten.
    Die geschickt bemalten Lippen bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu den bleichen, völlig ausdruckslosen Wangen. Sie stand nicht aufrecht da, sondern ihr linkes Bein war leicht abgewinkelt, so daß sich linke Hüfte und linkes Knie deutlich unter dem Kleid abzeichneten.
    Sie machte ganz den Eindruck wachsamer Würde.
    Alar war sich einer wachsenden, undefinierbaren, frohen Erregung bewußt. Er glitt lautlos auf den Boden hinab, stellte sich neben das Fenster, wo er vom Hof aus nicht zu sehen war, und wandte ihr erneut das Gesicht zu. In diesem Augenblick blitzte etwas an seinem Gesicht vorbei und blieb in der Wandverkleidung neben seinem Ohr stecken.
    Er erstarrte.
    „Ich bin froh, daß Sie logisch reagieren“, erwiderte sie ruhig. „Das erspart einem Zeit. Sind Sie der flüchtige Dieb?“ Er bemerkte das Funkeln in ihren Augen und schätzte rasch ihren Charakter ab: in sich verschlossen und gefährlich.
    Er antwortete nicht.
    Die Frau machte rasch mehrere Schritte auf ihn zu und hob gleichzeitig den rechten Arm. Bei der Bewegung spannte sich ihr weißes Kleid vorn über ihrer Figur und ließ die Kurven hervortreten. In der erhobenen Hand hielt sie ein zweites Messer. Im gedämpften Licht glänzte es bösartig.
    „Es wird sich für Sie empfehlen, mir wahrheitsgemäß und rasch zu antworten“, meinte sie.
    Er antwortete noch immer nicht. Seine Augen standen jetzt weit offen und bohrten sich in die ihren, aber diese großen Augen mit dem schwarzen inneren Feuer hielten seinem Blick völlig unbewegt und ohne zu zucken stand.
    Von ihren Lippen brach unerwartet ein kurzes Gelächter. „Bilden Sie sich ein, mich niederstarren zu können?“ fragte sie. Das Messer vibrierte vielsagend über ihren Fingern. „Los, zeigen Sie mir Ihre Maske, wenn Sie der Dieb sind.“
    Er lächelte ironisch und zog die Maske hervor.
    „Warum haben Sie nicht den Treffpunkt der Diebe aufgesucht? Warum sind Sie hierher gekommen?“ Sie senkte den Arm, hielt aber das Messer fest im Griff.
    Er starrte sie verkniffen an. „Ich habe es versucht. Alle Wege im Umkreis von Meilen sind abgesperrt. Auf dem Weg hierher, ins Kanzleramt, war die Bewachung am schwächsten. Wer sind Sie?“
    Keiris ignorierte die Frage. Sie trat einen Schritt näher an ihn heran, musterte ihn von den weichen Schuhen bis zur schwarzen Kopfbedeckung. Dann betrachtete sie eingehend sein Gesicht, und zwischen ihren Brauen zeigte sich ein schwaches, leicht erstauntes Stirnrunzeln.
    „Haben Sie mich früher schon einmal gesehen?“ fragte er. In ihrem Ausdruck lag etwas, was ihn beunruhigte. Es kam auf geheimnisvolle Weise zu der freudigen Erregung hinzu, die in ihm aufzuwallen begann.
    Sie ignorierte auch diese Frage. Sie sagte: „Was soll ich mit Ihnen anfangen?“ Die Frage war im Ernst gestellt und verlangte nach einer ernsten Antwort.
    Er hätte beinahe scherzend gesagt: „Rufen Sie die kaiserliche Polizei, die wird schon wissen, was zu tun ist.“ Statt dessen sagte er schlicht: „Helfen Sie mir.“
    „Ich muß weg“, überlegte sie. „Dennoch kann ich Sie nicht im Stich lassen. Man wird diese Räumlichkeiten durchsuchen, ehe noch die Stunde um ist.“
    „Dann helfen Sie mir also?“ Er kam sich wegen seiner Worte sofort dumm vor. Gewöhnlich stand er dem Unerwarteten mit völliger Selbstbeherrschung gegenüber – es störte ihn, daß ihn diese Frau aus der Ruhe bringen konnte. Um sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen, fügte er rasch hinzu: „Vielleicht kann ich mit Ihnen kommen?“
    „Ich muß mich auf dem Ball zeigen“, erklärte sie.
    „Ball?“ Der Dieb überlegte sich rasch die Möglichkeiten, denn er rechnete nun schon fest mit ihrer Hilfe. „Warum kann ich nicht mitkommen?

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