Der Mann ohne Vergangenheit
diamanthartes Pflichtgefühl von ihm erfordern, daß er Alar gefangenhielt – und koste es ihn das eigene Leben?
Thurmond spielte nachdenklich mit dem Griff des Dolches auf seiner Brust. „In Ordnung“, sagte er schließlich. Er trat hinter die Kades und drehte bei jeder einen Schalter herum. „Sie beeilen sich besser. Es ist jetzt sicher.“
„Sheys Degenscheide und Degen liegen neben Ihnen auf dem Tisch“, sagte der Dieb. „Reichen Sie mir beides.“
Thurmond gestattete sich bei der Überreichung des Säbels ein Lächeln. Alar wußte, daß der Mann vorhatte, ihn zu töten, sobald die Station wieder sicher war, und daß es für den besten Degenfechter im Reich keine Rolle spielte, ob der Dieb bewaffnet war.
„Eine Frage“, sagte der Dieb, als er sich den Säbel umschnallte. „Waren Sie mit Shey auf der Phobos?“
„Ich war auf der Phobos. Aber nicht mit Shey. Ich ließ ihn erst seinen Plan ausprobieren.“
„Und als er mißglückte …“
„… habe ich gehandelt.“
„Noch eine Frage“, beharrte der Dieb unbeirrt. „Wie wußten Sie und Shey, wo Sie mich finden konnten?“
„Das Mikrofilmgehirn.“
Das war unfaßbar. Das Gehirn verdammte und erlöste ihn abwechselnd. Warum? Warum nur? Würde er es je erfahren?
„Einverstanden“, sagte er abschließend. „Kommen Sie mit.“
Sie eilten auf den Kontrollraum zu.
Eine Stunde später tauchten sie stark schwitzend auf.
Alar wandte sich um und musterte seinen Erzfeind kurz.
Er sagte: „Es ist klar, daß ich Ihnen nicht erlauben kann, der Phobos ein Signal zu geben, solange mein eigener Status nicht zu meiner Befriedigung geklärt ist. Ich sehe keinen besonderen Vorteil darin, wenn ich etwas weiter aufschiebe, was seit unserem ersten Zusammentreffen unausweichlich war.“ Er zog mit kalter Berechnung den Säbel und wußte genau, daß er hoffte, seine zur Schau getragene Zuversicht würde ihren Eindruck auf Thurmond nicht verfehlen.
Der Polizeiminister zog die eigene Klinge mit verächtlicher Bereitwilligkeit. „Sie haben völlig recht. Sie mußten sowieso sterben. Um mein Leben zu retten, machte ich mir aus vertretbaren Gründen Ihr Verlangen zunutze, das eigene zu verlängern. Stirb!“
Wie bei vielen Anlässen in der Vergangenheit, wenn er sich dem Tode gegenübersah, fing die Zeit an, am Dieb vorbeizukriechen, und er nahm Thurmonds Vernichtungsgeschrei und seinen gleichzeitigen Ausfall als Teil eines gemächlich ausgespielten Schauspiels wahr. Thurmonds Manöver war eine Schauspielerrolle, die untersucht, analysiert und durch vollendet gewählte Worte und harmonisch ausgeführte eigene Gesten konstruktiv kritisiert werden mußte.
Er wußte, ohne über die Eigenschaften des Verstandes nachzudenken, der ihm dies zu wissen erlaubte und erforderte, daß Thurmonds Aufschrei und Ausfall nicht auf seinen Tod abzielten. Thurmonds flecke kam anscheinend „hoch oben rechts“, was, wenn sie erfolgreich durchgeführt wurde, Alar das Herz und die rechte Lunge durchbohren mußte. Geübte Fechter parierten solch einen Stoß in der Regel mit einer gewöhnlichen Terz oder vielleicht einer Quint und ließen einen Gegenausfall auf den Unterleib des Gegners folgen.
Doch hatte Thurmonds Aufschrei eine spekulative, fragende Komponente enthalten. Der Mann hatte offensichtlich erwartet, daß der Dieb seine Finte durchschauen und den Plan einer höchst verwickelten, stufenweisen Attacke erkennen würde, die auf Alars beinahe unwillkürlicher Reaktion auf den hoch angetragenen Stoß basierte. Er erwartete, daß der erfahrene Dieb eine mögliche Falle durch das einfache Gegenmittel des Kreuzens der Klingen und einen Neubeginn vereiteln würde.
Diese Analyse des Angriffs war bis auf eines sehr einleuchtend: Thurmond, der nie zu denen gehörte, die sich auf unvermeidliche Risiken einließen, würde, anstatt die Klingen zu entwirren, höchstwahrscheinlich nach seinem Brustdolch greifen und ihn dem Gegner in die Kehle stoßen.
Der Dieb konnte jedoch nicht gleichzeitig die Befestigung des Dolches durchtrennen und den Stoß abwehren.
Dann war plötzlich alles vorbei. Thurmond war, giftig spuckend, zurückgesprungen, und die Scheide des Dolchs wirbelte hinter ihm wie verrückt durch die Luft. Auf der Brust des Diebes fing ein roter Streifen rasch zu wachsen an. Der Polizeiminister lachte leichthin.
Alars Herz schlug sehr schnell – wie schnell, wußte er nicht – und pumpte den lebensnotwenigen Saft durch die trügerisch simple Stichwunde in der Lunge.
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