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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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nichts mehr dringend erwartet.
    So traf ich an einem jener Nachmittage eine alte Dame aus meinem Haus, die noch nie einen Satz mit mir gewechselt hatte. Ich trug ihre Taschen zwei Stockwerke hoch, und überraschenderweise sagte sie dann: »Kommen Sie doch auf einen Tee herein.« Ich hatte nichts vor, außer Abschied zu nehmen, so folgte ich ihrer Einladung. Ihre Wohnung war erfüllt von dem Geruch, den leere Keksdosen und alte Parfüms verströmen, und die Einrichtung zeugte von erlesenem Geschmack. Alte skandinavische Designmöbel standen in kleinen Gruppen zusammen, befremdlich wirkte allein ein ausgestopftes Nagetier in einem ausnehmend schönen Finn-Jul-Regal.
    Die Dame kam mit Tee und so kleinen Schritten, dass es wirkte, als hätte sie zwei Beinprothesen, die auf einem Skateboard befestigt waren, das sie nur wackelnd bewegen konnte.
    Nach einigen Momenten der Ruhe begann sie zu reden.
    »Ich habe nie geredet. Ich hatte wohl die Fähigkeit dazu, die physischen Voraussetzungen waren gegeben, doch gab es bei mir nie ein Bedürfnis, mich über Worte mitzuteilen. Vielleicht begann es als Tick, doch es ging mir wie jedem Menschen, der eine Gewohnheit entwickelt. Irgendwann konnte ich mir einfach nicht mehr vorstellen, anders zu leben, als ich es tat. In meiner Kindheit waren meine Eltern über Gebühr besorgt um meine Sprachlosigkeit. Sie wollten, auch das ist menschenüblich, unbedingt herstellen, was ihnen die Umgebung als NORMAL vorlebte. Ich verbrachte den größten Teil meiner Kindheit bei Ärzten, Psychologen, beim Delphinschwimmen und Pferdereiten. Die Aufregung bestärkte michallerdings eher in meinem Entschluss, nichts zu sagen. Worte erschienen mir schon immer als Gefahr; wenn ich die Gespräche meiner Eltern belauschte, Sätze, in denen immer ein: ›Aber du hast versprochen!‹ vorkam. Die immer mit einem: ›Warum hast du dann gesagt!‹ endeten. In der Stille, die ihren Gesprächen folgte, entstand bei mir der große Wunsch, meine eigene Stille, die sehr viel behaglicher war, zu verteidigen. In meinem weiteren Leben hatte ich Freude in der Bibliothek, in der ich arbeitete, mit mir und der Ruhe, die mich umgab. Ruhe, wie ein Panzer aus Kaschmir, an dem alles abprallt, was in der Welt stattfindet, die man nicht mag, weil sie laut ist und unerfreulich. Ich habe nie darum gebeten, geboren zu werden. Die Eltern entscheiden für dich; in einem Moment der Lust oder der Gewohnheit stellen sie etwas her, das sie kurz nur versorgen und das dann sechzig Jahre in einem Zustand verbringen muss, der nichts will, außer wieder in Ruhe zu liegen. Was einem nicht vergönnt ist, denn ein ordentlicher Mensch hat seine Pflichten in der Gesellschaft. Ich wollte nie sein, was mir unter dem Begriff LEBENDIG vermittelt wurde. An Tischen sitzen, Wein trinken, vom Klang meiner Stimme trunken werden, mit Männern schreiend in Betten liegen, schnelle Autos zerfahren. Wenn ich schon als Mensch geboren worden bin, so wollte ich doch wenig mit der Spezies zu tun haben. Das gelingt schweigend. Kaum einer mag mit Stummen verkehren. Ich hatte beobachtet, wie unglücklich sie waren, die anderen, in der ständigen Erfüllung anderer Leute Erwartungen, wie es sie verspannte, wie sie zwar sprachen, doch kein Satz aus ihnen kam, sondern einzig tausendfach gehörte Worte, die wirken wollten. Ich war wohl einmal mit einem Mann zusammen. Doch ich habe alle Details vergessen. Ichsuchte nie einen Freund, ich war mir genug. Ich bewegte mich in meiner leisen Welt, verließ das Haus am Morgen, wenn mit Glück Nebel oder Regen das Elend unsichtbar machte, lief durch eine öffentliche Grünfläche zur Bibliothek. Ich musste keinen sehen dort, weil es nur galt, Bücherpakete über Land zu verschicken. Am Abend ging ich heim, und der einzige Kontakt des Tages fand mit dem Verkaufspersonal des Supermarktes statt, in dem ich mir jeden Abend die gleichen Gerichte kaufte. Zu Hause las ich, schaute aus dem Fenster, wartete, dass die Zeit verging, in dem Leben, um das ich nicht gebeten hatte. Das Tier hatte ich eines Abends kennengelernt, als ich vom Einkauf zurückkam. Es war eine Art Nager, genau weiß ich es bis heute nicht. Es saß auf meiner Eingangstreppe und sah mich abwartend an. Ein kleines braunes Pelztier mit wachem Blick und zarten Händen. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, erhob es sich und schritt selbstbewusst ins Haus. Es stieg die Stufen in den vierten Stock, wo sich meine Wohnung befand, behende hoch, wartete auf mich, um dann wiederum

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