Der Menschen Hoerigkeit
Brust«, brüllte Lawson. »Das ganze Bild ist ein Wunder der Malerei, sage ich dir.«
Er fing an, die Schönheiten des Bildes in allen Einzelheiten zu beschreiben, aber wer an diesem Tisch lange sprach, sprach zur eigenen Erbauung. Keiner hörte ihm zu. Der Amerikaner unterbrach ihn wütend:
»Du willst doch nicht behaupten, dass der Kopf gut ist?«
Lawson, bleich vor Erregung, fing an, den Kopf zu verteidigen; aber Clutton, der bis dahin schweigend und mit einem Ausdruck gutmütigen Spottes dagesessen hatte, mischte sich nun ebenfalls ein.
»Lass ihm den Kopf. Wir brauchen den Kopf nicht. Der kann dem Bild nichts anhaben.«
»Gut, gut, ich schenke dir den Kopf«, schrie Lawson. »Nimm dir den Kopf und scher dich zum Teufel.«
»Na, und die schwarze Linie?«, rief der Amerikaner triumphierend aus und strich eine Locke zurück, die in die Suppe zu hängen drohte. »Sieht man etwa in der Natur eine schwarze Linie um die Gegenstände?«
»O Gott, schicke Dein himmlisches Feuer herab, auf dass es den Lästerer verzehre«, sprach Lawson. »Was hat denn die Natur damit zu tun? Keiner weiß, was es in der Natur gibt und was nicht! Die Welt sieht die Natur durch die Augen des Künstlers. Jahrhundertelang sah sie ein Pferd, alle vier Beine gestreckt, eine Hürde überspringen, und beim Himmel, die Beine waren gestreckt. Sie sah die Schatten schwarz, bis Monet entdeckte, dass sie farbig sind, und beim Himmel, Sir, sie waren schwarz. Wenn es uns beliebt, die Gegenstände mit einer schwarzen Linie zu umgeben, wird die Welt die schwarze Linie sehen, und die schwarze Linie wird da sein; und wenn wir Gras rot und Kühe blau malen, wird die Welt das Gras rot und die Kühe blau sehen, und, beim Himmel, das Gras wird rot und die Kühe werden blau sein.«
»Zum Teufel mit eurer Kunst«, brummte Flanagan. »Ich möchte mich betrinken.«
Lawson achtete nicht auf die Unterbrechung.
»Als die Olympia im Salon gezeigt wurde, da äußerte Zola unter den Spottrufen der Philister und dem Zischen der pompiers, der Akademiker und des Publikums – Zola also sagte: ›Ich sehe den Tag kommen, da Manets Bild im Louvre gegenüber der Odalisque von Ingres hängen wird, und nicht die Odalisque wird es sein, die durch den Vergleich gewinnt!‹ Es wird dort hängen. Jeden Tag sehe ich die Zeit näher kommen. In zehn Jahren hängt die Olympia im Louvre.«
»Niemals«, brüllte der Amerikaner und bediente sich diesmal beider Hände in einem plötzlichen verzweifelten Versuch, seine Haare ein für allemal in Ordnung zu bringen. »In zehn Jahren ist das Bild erledigt. Es ist eine Mode des Augenblicks. Kein Kunstwerk kann bestehen bleiben, dem das fehlt, was dieses Bild um tausend Meilen verpasst.«
»Und das wäre?«
»Es gibt keine große Kunst ohne moralische Werte.«
»Guter Gott«, schrie Lawson wütend. »Ich wusste es ja gleich. Er braucht die Moral.« Er faltete die Hände und streckte sie flehend zum Himmel empor. »O Christoph Kolumbus, O Christoph Kolumbus, was hast du getan, als du Amerika entdecktest!«
»Ruskin sagt…«
Aber ehe er noch ein Wort hinzufügen konnte, klopfte Clutton gebieterisch mit dem Messer auf den Tisch.
»Meine Herren«, sagte er mit strenger Miene, und seine riesige Nase wurde ganz kraus vor Leidenschaft, »hier ist ein Name gefallen, den ich in gebildeter Gesellschaft nie mehr zu hören hoffte. Ich bin der Letzte, der sich erdreistet, die Freiheit der Rede anzutasten, aber gewisse Grenzen des Anstandes sollten dann doch gewahrt werden. Man kann meinetwegen von Bouguereau sprechen, der Name hat etwas Fröhlich-Abstoßendes, das zum Lachen reizt; aber mit den Namen von J. Ruskin, G. F. Watts und E. B. Jones wollen wir unsere keuschen Lippen nicht mehr beschmutzen.«
»Wer war eigentlich Ruskin?«, fragte Flanagan.
»Er war einer der großen viktorianischen Schriftsteller. Er war ein Meister des englischen Stils.«
»Mir können alle großen Viktorianer gestohlen bleiben«, sagte Lawson. »Jedes Mal, wenn ich eine Zeitung aufschlage und lese, dass wieder einer gestorben ist, danke ich dem Himmel. Ihr einziges Talent war ihre Langlebigkeit, und kein Künstler sollte älter werden als vierzig; bis dahin hat er sein Bestes geleistet; alles, was nachher kommt, ist nur mehr Wiederholung. Glaubt ihr nicht, dass es für Keats, Shelley, Bonnington und Byron das größte Glück war, früh zu sterben? Swinburne würden wir für ein Genie halten, wenn er gleich nach der Veröffentlichung seines ersten
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