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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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der großen Hausse vor ein, zwei Jahren gemacht worden waren.
    »Also, vergessen Sie’s nicht beim nächsten Mal.«
    Sie saßen zusammen und schwatzten bis kurz vor Mitternacht. Philip, der am weitesten entfernt wohnte, ging als Erster. Wenn er die Tram verpasste, müsste er zu Fuß gehen, und dann würde es spät werden. Aber auch so gelangte er erst um halb eins nach Hause. Als er nach oben kam, fand er Mildred noch in seinem Lehnsessel sitzend.
    »Um Himmels willen, warum bist du denn noch nicht im Bett?«, rief er.
    »Ich war nicht müde.«
    »Du hättest aber trotzdem schlafen gehen sollen. Es würde dir guttun.«
    Sie bewegte sich nicht. Er bemerkte, dass sie sich umgezogen hatte, denn sie trug ihr schwarzes Seidenkleid.
    »Ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn ich aufbliebe, falls du noch etwas wünschst.«
    Sie sah ihn an, und um ihre dünnen bleichen Lippen spielte der Anflug eines Lächelns. Philip war sich nicht klar, ob er es richtig verstand. Er war etwas verlegen, zwang sich jedoch zu einem sachlich heiteren Ausdruck.
    »Das ist sehr nett von dir, aber auch sehr dumm. Geh so schnell wie möglich zu Bett, sonst kannst du morgen früh nicht aufstehen.«
    »Mir ist aber nicht nach Schlafengehen zumute.«
    »Unsinn«, sagte er kalt.
    Sie stand ein bisschen mürrisch auf und ging in ihr Zimmer. Er lächelte, als er sie laut die Tür zuriegeln hörte.
    Die nächsten Tage verliefen ohne Zwischenfall. Mildred richtete sich in ihrer neuen Umgebung häuslich ein. Wenn Philip nach dem Frühstück davongeeilt war, hatte sie den ganzen Vormittag für sich, um die Hausarbeiten zu erledigen. Sie aßen sehr einfach, aber sie nahm sich gern Zeit, um die paar Sachen, die sie brauchten, einzukaufen. Sie machte sich nicht die Mühe, mittags etwas zu kochen; für sich selbst machte sie etwas Kakao und aß Butterbrote dazu; dann fuhr sie die Kleine im Kinderwagen aus, und nachher, wenn sie zurückkamen, faulenzte sie den Rest des Nachmittages. Sie war erschöpft, und es passte ihr, so wenig zu tun zu haben.
    Sie schloss Freundschaft mit Philips abweisender Wirtin, als sie ihr die Miete zahlen ging, was Philip ihr übertragen hatte, und innerhalb einer Woche konnte sie ihm mehr von den Nachbarsleuten erzählen, als er selbst im Verlauf eines Jahres erfahren hatte.
    »Sie ist eine sehr nette Frau«, sagte Mildred. »Ganz Dame. Ich habe ihr gesagt, wir sind verheiratet.«
    »War das nötig?«
    »Ich musste ihr doch etwas sagen. Es sieht schließlich sehr komisch aus, dass ich hier bin, ohne mit dir verheiratet zu sein. Ich wusste nicht, was sie von dir denken würde.«
    »Ich nehme kaum an, dass sie dir auch nur einen Augenblick geglaubt hat.«
    »Das hat sie allerdings. Ich habe ihr gesagt, dass wir schon zwei Jahre verheiratet sind – das musste ich schon, wegen des Kindes –, bloß deine Leute hätten nichts davon hören wollen, weil du nur Student warst, und deshalb hätten wir es geheim halten müssen; aber sie hätten jetzt nachgegeben, und wir würden alle hinfahren und über den Sommer bei ihnen bleiben.«
    »Im Erzählen von Lügengeschichten bist du Meisterin«, sagte Philip.
    Es irritierte ihn irgendwie, dass Mildred noch immer diese Leidenschaft für Flunkereien hatte. Sie hatte in den letzten zwei Jahren nichts dazugelernt. Aber er zuckte nur die Achseln.
    ›Wenn man es sich genauer überlegt‹, sagte er sich, ›hat sie nicht viel Gelegenheit gehabt, sich zu ändern.‹
    Es war ein herrlicher Abend, warm und völlig wolkenlos; die ganze Bevölkerung von Süd-London schien sich auf die Straßen ergossen zu haben. Es war eine Unruhe in der Luft, die die armen Cockneys manchmal packt, wenn ein Wetterumschlag sie ins Freie lockt. Nachdem Mildred den Abendbrottisch abgeräumt hatte, stellte sie sich ans Fenster. Die Geräusche der Straße kamen zu ihnen herauf, der Lärm der Menschen, die einander etwas zuriefen, des vorbeiratternden Verkehrs, eines Leierkastens in der Ferne.
    »Du musst wohl heute Abend arbeiten, Philip?«, fragte sie mit einem wehmütigen Ausdruck.
    »Ich sollte wohl; aber ich weiß nicht, ob ich muss. Warum? Möchtest du gern, dass ich etwas anderes tue?«
    »Ich möchte so gern ein bisschen hinausgehen. Könnten wir nicht oben auf dem Bus ein Stück spazieren fahren?«
    »Wenn du möchtest.«
    »Ich gehe nur eben und setz mir den Hut auf«, sagte sie strahlend.
    Es war fast unmöglich, an einem solchen Abend drinnen zu bleiben. Die Kleine schlief, man konnte sie unbesorgt allein

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