Der Menschen Hoerigkeit
Plötzlich kam ihm die Antwort; er musste lachen; jetzt, da er sie wusste, war ihm zumute wie jemandem, der sich mit einem Rätsel vergeblich abgemüht hat und dem man dann schließlich die Lösung verrät; er kann sich danach gar nicht vorstellen, wie er sie nicht selbst hatte finden können. Die Antwort lag auf der Hand. Das Leben hatte keinen Sinn. Auf der Erde, die als Trabant eines Sternes durch das Universum schoss, hatten sich unter bestimmten Bedingungen, die ein Teil der Geschichte dieses Planeten waren, Lebewesen entwickelt; so wie sich hier der Anfang des Lebens vollzog, so würde einmal unter veränderten Bedingungen das Ende eintreten. Der Mensch, der nicht bedeutsamer ist als andere Lebensformen, trat nicht als Höhepunkt der Schöpfung auf, sondern als physische Reaktion auf seine Umgebung. Philip erinnerte sich an eine Erzählung über einen König aus dem Morgenland, der die Geschichte des Menschen erfahren wollte. Einer der Weisen brachte ihm fünfhundert Bände; der König jedoch, den die Staatsgeschäfte in Anspruch nahmen, schickte ihn fort, er möge, was darin stehe, für ihn zusammenfassen. Nach zwanzig Jahren erschien der Weise wiederum vor ihm, und die Geschichte war jetzt in fünfzig Bänden enthalten. Der König, der inzwischen gealtert war und nicht mehr so viele dicke Bände zu lesen vermochte, schickte ihn erneut fort, auf dass er noch stärker kürze. Wieder vergingen zwanzig Jahre, und der Weise brachte, alt und grau, ein einziges Bändchen, das alles Wissenswerte für den König enthielt. Der König aber lag auf seinem Sterbebette, und ihm blieb keine Zeit mehr, selbst dieses kleine Werk zu lesen. Daraufhin gab der Weise ihm die Geschichte des Menschen in einem einzigen Satz, und der lautete: Er wurde geboren, er litt und er starb. Das Leben hatte keinen Sinn, und das Leben des Menschen diente keinem höheren Zweck. Es war belanglos, ob er geboren wurde oder nicht, ob er lebte oder zu leben aufhörte. Das Leben war ohne Bedeutung und der Tod ohne Folgen. Philip frohlockte, wie er als Knabe frohlockt hatte, als die Last des Glaubens an Gott von seinen Schultern fiel; es schien ihm, als sei ihm nun die Bürde der Verantwortung genommen – von nun an würde er frei sein. Seine Bedeutungslosigkeit verwandelte sich damit in Macht; jetzt war er quitt mit dem grausamen Schicksal, das ihn verfolgt zu haben schien. Denn war das Leben sinnlos, so hatte auch die Welt alle Grausamkeit verloren. Was er tat oder unterließ, war gleichgültig. Versagen war unwichtig, und Erfolg bedeutete nichts. Er war das unwichtigste Geschöpf in dieser wimmelnden Masse Menschheit, die für einen kurzen Zeitraum die Oberfläche der Erde besetzt hielt; allmächtig war er, weil er dem Chaos das Geheimnis seiner Nichtigkeit abgerungen hatte. Die Gedanken überstürzten sich in Philips kühner Phantasie; er zog lang und tief den Atem ein in heiterer Zufriedenheit. Er hätte Lust gehabt, herumzuspringen und zu singen. Seit Monaten war er nicht mehr so glücklich gewesen.
›Ach, Leben!‹, rief es in seinem Herzen. ›Leben, wo ist dein Stachel?‹
Die Aufwallung seiner Phantasie, die ihm mit der Klarheit einer mathematischen Beweisführung gezeigt hatte, dass das Leben keine Bedeutung besaß, brachte noch einen anderen Gedanken hervor. Deshalb hatte Cronshaw ihm wahrscheinlich den persischen Teppich geschenkt! So wie der Weber sein Muster aus reiner Freude an der gestalteten Schönheit ausführte, ohne einen Zweck vor Augen zu haben, so konnte der Mensch sein Leben leben; oder wenn man davon ausgehen musste, dass Handlungen außerhalb der eigenen Entscheidungssphäre lagen – so konnte der Mensch sein Leben als ein schön ausgeführtes Muster betrachten. Es lag so wenig Notwendigkeit wie Sinn darin, dies zu tun. Er tat es einfach, weil es ihm Freude machte. Aus seinen vielfältigen Erlebnissen, aus seinen Taten, seinen Gefühlen, seinen Gedanken konnte er ein Muster entwickeln, das je nachdem regelmäßig, kompliziert, herrlich ausgearbeitet oder schlichtweg schön war. Und mochte es wirklich nur ein Wahn sein, dass er die Wahl hatte, mochte es nichts als eine phantastische Selbstbegaukelung sein, in der Erscheinungen mit Mondstrahlen verwoben wurden, was machte es schon aus: Es erschien ihm so, folglich war es für ihn wirklich. In dem großen Webstuhl des Lebens – das Leben, ein Fluss aus keiner Quelle, der immer und ewig dahinfließt, ohne je in das Meer zu münden – mag ein Mensch persönliche Befriedigung
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