Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Finger mehr in ihm auslösen konnte, als es jede andere Frau in seinem bisherigen Leben vermocht hatte. Für Romantik |304| hatte er sich nie richtig interessiert, und auch Liebesromane und Liebesfilme hatte er, so gut es ging, vermieden und sich an Thriller und Actionfilme gehalten. So konnte einen das Leben überraschen.
Die Klinik hatte tatsächlich einen hervorragenden Blick über den Vejle Fjord. Sie gehörte zu einem größeren Krankenhauskomplex und war in einem nagelneuen Gebäude untergebracht, das von einem Architekten in modernem Stil mit lichtdurchfluteten Einheiten entworfen worden war. Am Informationsschalter sagte Janos Bescheid, dass sie einen Termin mit Palle Vejleborg hätten. Sie mussten etwa eine halbe Stunde warten, bis ein kleiner dicker Mann im Arztkittel mit Halbglatze und gewichtigen Schrittes auf sie zukam.
»Janos! Du hast dich ja überhaupt nicht verändert. Du unverbesserlicher Latino!«
Er streckte ihm die Hand entgegen. »Willkommen in meinem Palast. Es ist lange her.«
Janos erwiderte den Händedruck. »Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Ich möchte dir meine Sekretärin Lena Bjerregaard vorstellen.«
Lena erhob sich und streckte ihm ihre Hand entgegen. Janos bemerkte, dass sie Schwierigkeiten hatte, die Entfernungen richtig einzuschätzen. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz oder wo man diese Dinge eben spürt. Darüber machte er sich in letzter Zeit häufiger Gedanken, ausgerechnet er, der bisher immer einen so pragmatischen Zugang zu den Organen gehabt hatte und sich geweigert hatte, einen Sonderstatus des Herzens anzuerkennen.
»Wenn ihr mitkommen wollt, dann sehen wir uns die Angelegenheit mal an.«
»Angelegenheit?«, flüsterte Lena und sah ihn verängstigt an.
Er drückte ihre Hand, erwiderte aber nichts. Daraufhin zwang sie ihn stehen zu bleiben. »Janos. Welche Angelegenheit?«
Mehrere Minuten musste er auf sie einreden, um sie zu überzeugen. Zuerst wollte sie überhaupt nicht. Erst als er es ein |305| zweites Mal wie die Anordnung eines Vorgesetzten klingen ließ, verstummte ihr Protest. »Jetzt komm. Eine zweite Meinung schadet nie. Es dauert ja nicht lange.«
Er griff ihre Hände, und sie folgte ihm zögernd. Palle Vejleborg war bereits im Sprechzimmer am Ende des Gangs verschwunden. Dort war alles mit der neuesten Technik ausgestattet, die Instrumente sahen aus, als hätten sie gerade die Fabrik verlassen und wären bisher noch nicht zum Einsatz gekommen.
»Okay. Wenn du mir dann die junge Dame überlässt, kannst du es dir im Wartezimmer bequem machen und die Aussicht genießen«, schlug Vejleborg vor.
Lena sah Janos mit einem Blick an, der alles hätte bedeuten können, von Wut bis zum Hilferuf. Er nickte ihr aufmunternd zu.
»Du bist bei Palle in guten Händen. Er ist ein alter Studienkollege und absolut harmlos.«
Er hatte gehofft, ein Lächeln für den Spruch zu bekommen. Aber weder sie noch Palle verzogen das Gesicht. »Bis gleich.«
Das Wartezimmer war mit Arne Jacobsen Möbeln eingerichtet und halb voll. Er griff sich das
Handelsblatt
, konnte sich aber nicht aufs Lesen konzentrieren. Stattdessen schweifte sein Blick aus den mannshohen Fenstern über den Vejle Fjord. Er begann die Segelboote auf dem Fjord zu zählen. Seine Gedanken wanderten weiter, er dachte an ihre erste gemeinsame Nacht und wie leichthändig sie ihn geführt hatte.
Nach dem Essen im Restaurant in der Skolegade, bei dem er sich wie ein tölpelhafter Dreizehnjähriger gefühlt hatte, hatte er sie nach Hause gefahren. Er hatte ihr auf die wohl unbeholfenste Art gestanden, dass er sich in sie verliebt hatte. Sie hätte ihn wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz anzeigen können. Aber stattdessen hatte sie seine Hand genommen und ihn sicher durch die peinlichsten Situationen geführt.
Sie hatte ihn in ihre Wohnung gebeten. Schon in der Eingangstür hatte sie sich an ihn geschmiegt.
»Und jetzt küsse ich dich«, hatte sie geflüstert, so als würde er davor gewarnt werden müssen.
|306| Dadurch, dass sie die Initiative übernommen hatte, waren ihm Verantwortung und Angst genommen. Er war nicht mehr ihr Vorgesetzter, wie er erleichtert feststellen konnte, und ihre Lippen schmeckten gleichzeitig süß und salzig.
Sie führte ihn in ein gemütliches Wohnzimmer und schob ihn auf das Sofa.
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«
Sie wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern verschwand gleich in die Küche. Er sah sich um, hier standen keine teuren Möbel als
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