Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
erhalten, wenn der erste nicht in Frage kam und es auch bei ihm keinen Einwand gegen eine Transplantation gab.
Während er den Gang zu seinem Büro hinunterlief, wünschte er sich, dass man das anders regeln könnte. Dass man nicht zur Sicherheit immer auch einen zweiten Empfänger einberufen |215| musste. Es war schließlich eine große Belastung für den Patienten, sich auf eine Operation vorzubereiten, um dann unter Umständen zu erfahren, dass das eigene Blut sich nicht mit dem der Spenderniere crossmatchen ließ. Und dann unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren zu müssen. Es schoss ihm der fast zynische Gedanke durch den Kopf, dass man als Nierenpatient bei guter Verfassung sein musste.
Er kam an dem Zimmer vorbei, vor dem die beiden Beamten saßen, die Den Besonderen Patienten bewachten. Ihm waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass er Besuch gehabt hatte, eventuell sogar ein Familienmitglied, aber er widerstand der Versuchung, hineinzugehen und zu fragen. Er hatte gerade keine Lust, seinen Spitznamen zu hören. Sein Kollege Torben Smidt hatte zu allem Übel auch begonnen, ihn so zu nennen. Am Morgen hatten sie sich in der Kantine getroffen, und Smidt hatte ihm lauthals entgegengerufen: »Doktor Tod, I presume. Darf ich die Ehre haben, Ihnen eine Erfrischung aus dem Land der Lebenden anzubieten?«
Janos hatte ausnahmsweise ein bisschen Zeit und sich mit seinem Becher Kaffee zu ihm gesetzt. Aber der Spitzname hatte ihn irritiert, zudem Smidt ihn so großzügig verwendete wie den Zucker, den er sich in sein Getränk schüttete.
»Du, ich hab gestern eine Mail aus der Vergangenheit bekommen, da bin ich praktisch vom Stuhl gekippt.«
Fragend sah er Smidt an. Sie hatten vor gefühlten hundert Jahren zusammen in Århus Medizin studiert.
»Von der alten Crew?«
»Ganz genau, Doktor Tod.«
»Please …«
»Es ist wirklich ein vortrefflicher Name. Du solltest dich geehrt fühlen.«
»Bin ich aber nicht.«
Smidt hob seinen Becher hoch und pustete in seinen Kaffee.
»Schon gut, sag mal, erinnerst du dich an Palle Vejleborg?«
»Meinst du den Palle Vejleborg, der in großem Stil die Toilettenrollen |216| der Fakultät geklaut hat? Und der dabei erwischt wurde, wie er den Schrank mit dem Alkohol knacken wollte?«
Smidt nickte.
»Eben dieser Vejleborg. Der niederträchtige Satan.«
»Aber lustig war er«, sagte Janos und erinnerte sich gerne an die Partys in Vejleborgs Studentenwohnheim, wo der besagte Alkohol auf dem Schwarzmarkt in Umlauf war.
»Lustig, ja. Das bestreite ich auch überhaupt nicht.«
»Wo hat es ihn hinverschlagen? Hat er eigentlich seinen Facharzt gemacht?«
Smidt nickte.
»Augenarzt. Er hat gerade eine neue Privatklinik in Vejle eröffnet, mit Blick auf den Fjord und allem, was dazugehört. Fette Kohle!«
Janos nickte.
»Klar. Was wollte er denn von dir?«
Smidt lächelte ihn wohlwollend an, und Janos wusste sofort, worum es ging. Ihre alte Priorisierungsdebatte, dieses Mal mit konkreten Namen.
»Es geht um seine Tochter. Marie Vejleborg, vierundzwanzig Jahre alt. Sie ist neu auf der Warteliste.«
»Lass mich raten, wir sollen sie aufrücken lassen?«
Smidt erwiderte nichts, er hielt nur Janos’ Blick stand.
»Er weiß hoffentlich nur zu gut, dass wir das weder können noch wollen.«
Smidt rührte seinen Kaffee um. Seine Lippen umspielte ein verschmitztes Lächeln.
»Sonst hätte er wohl nicht gefragt. Es geht ja schließlich um seine Tochter, sein Fleisch und Blut, und nebenbei bemerkt, sein einziges Kind«, sagte er.
»Was hast du ihm geantwortet?«
Smidt nahm den Löffel aus dem Becher und legte ihn auf die Untertasse.
»Ich habe selbstverständlich geantwortet, dass es unmöglich |217| ist. Du bezweifelst doch hoffentlich nicht, dass ich das getan habe, oder?«
Janos zögerte die entscheidende Sekunde zu lange, aber keiner von ihnen kommentierte es.
»Nein, nein, natürlich nicht.«
Abgesehen von der Tatsache, dass es schlichtweg unmöglich war, die Reihenfolge auf der Warteliste zu verändern, ohne dass jemand Einspruch erheben würde, hatten sie fernab von ihrem Gerede von Priorisierung schließlich auch ihre Prinzipien. Vielleicht war sein Zögern auch eher als Zeichen seiner Verblüffung zu sehen, dachte er, während Smidt seinen Kaffee trank. Sein eigener stand unberührt auf dem Tisch. Es war das erste Mal, dass jemand den Versuch gewagt hatte, die Position eines Namens auf der Warteliste zu verändern. Und mehr noch, als dass es ihn verärgerte,
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