Der Meuchelmord
mir Geld besorgen, um zu wissen, ob sie aus einer anderen Perspektive nicht schöner ist.«
»Weißt du was«, sagte Elizabeth, »ich habe dir alles über mich erzählt, aber von dir weiß ich praktisch gar nichts, Bruno. Ich möchte gern wissen, was geschehen ist, bevor ich dich traf. Ich möchte alles über das Waisenhaus hören und dann über die Fremdenlegion. Wirst du es mir erzählen?«
Es stimmte schon, daß sie ihm alles über sich gesagt hatte. Sie hatte alle Bedenken verloren, zusammen mit ihrer Zurückhaltung und den Hemmungen, die Peter Matthews niemals ausgeräumt hatte. Die erste Nacht in Kellers Armen hatte all das wie mit Dynamit weggesprengt. Elizabeth hatte ihm von ihrer Kindheit, ihren Eltern erzählt, ganz persönliche Einzelheiten aus ihrem Leben, von denen sie niemals geglaubt hatte, daß ein anderer sie erfahren würde, und er hatte ihr geduldig zugehört.
Er hatte noch nie mit einem Menschen über sich selbst gesprochen. Es war so schwierig, die richtigen Worte zu finden. Souha hatte er nie etwas gesagt, und sie hätte auch nicht daran gedacht, ihm eine Frage zu stellen. Aber Elizabeth hatte ihm beigebracht, daß eine Frau auch eine Kameradin sein kann, gleichberechtigt und vertraut. Er zog sie nieder und küßte sie. Ihre Lippen waren weich, und er fuhr ihr gern über das lange seidige Haar. Es war so leicht, daß man Strähnen davon in die Luft blasen konnte.
»Du bist ein Narr.« Das sagte er sich selbst ein dutzendmal. Ein Narr, der in eine Phantasiewelt geraten ist. Was du mit diesem Mädchen da anstellst, ist für euch beide schlecht und verrückt. Aber er konnte dem Geschehen nicht Einhalt gebieten. Es war alles zu schnell gegangen und zu weit fortgeschritten. Er konnte nicht aufhören, sie zu lieben, und die Freude daran war wie ein schleichendes, tödliches Gift, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Es war die Farbe ihrer braunen Augen mit den kleinen grünen Lichtern darin oder die Art, wie sie ihm am Morgen wachküßte. Er liebte sie, weil sie intelligent war, weil man mit ihr reden und dabei vergessen konnte, daß sie kein Mann war. Und er liebte sie noch mehr, weil sie dann plötzlich wieder klein und dumm war und nicht einmal wußte, wo Dien Bien Phu lag.
»Was willst du denn von mir wissen?« fragte er.
»Alles. Wie war es in dem Waisenhaus?«
»Ich weiß nicht.« Keller zögerte und dachte nach. Wie sollte er diese langen Jahre eines Daseins beschreiben, das so eintönig war, daß die Zeit selbst ihre Bedeutung verloren hatte? Die tägliche Routine, die Gerüche im Waisenhaus, die Disziplin, die Strafen, das bedrückende Fehlen jeglichen Privatlebens. Das alles konnte man nur mit einem einzigen Wort beschreiben, mit einem Wort, das treffender war als alle anderen.
»Ich war einsam«, sagte er. »Aber es war immer noch besser, als draußen zu stehen. Das zumindest wußte ich von einigen anderen Kindern, die später kamen. Meine Mutter hat mich nicht lange behalten. Sie übergab mich den Nonnen, als ich ein paar Wochen alt war.«
»Wie konnte sie nur?« fragte Elizabeth zornig. »Wie konnte sie nur das einzige Kind weggeben?«
»Darüber habe ich viel nachgedacht«, sagte Keller. »Ich habe gegrübelt und sie in Gedanken beschimpft, aber dann, später, habe ich angefangen zu begreifen. Sie muß sehr arm gewesen sein. Irgendein Schweinehund hatte sie verführt und dann sitzengelassen. Meinem Namen nach zu schließen war der Mann ein Deutscher, vielleicht ein zufälliger Besucher – ich habe Frauen gesehen, die ihr Kind behalten wollten, aber es ist nicht einfach.«
»Es war für dich auch nicht gerade einfach«, sagte Elizabeth. »Hat man dich gut behandelt? Waren die Nonnen freundlich zu dir?«
»Wir waren dreihundert Kinder, und es war Krieg«, sagte er. »Sie waren so nett und freundlich, wie das nur menschenmöglich war. Eine Nonne war besonders gut zu mir und kümmerte sich mehr um mich als die übrigen. Sie hat mich später gebeten, ihr zu schreiben. Ich hab's einmal getan, aber ich hatte nicht die richtige Adresse und hörte nie etwas von ihr.«
»Was hast du nach dem Waisenhaus gemacht?« fragte Elizabeth. Sie bedauerte fast schon, überhaupt gefragt zu haben, denn seine Beschreibung war so trist und grau.
»Ich hab's mit Arbeiten versucht. Damals war ich fünfzehn. Ich arbeitete bei einem Lebensmittelhändler in Lyon. Er zahlte mir nichts, aber seine Tochter wollte mich verführen. Ich erinnere mich noch genau an sie. Sie war etwas älter und hatte so eine
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