Der mieseste Liebhaber der Welt
waren meine letzten Worte an diesem Abend.
Möglicherweise nickte ich noch zwei oder drei Mal mit dem Kopf, aber gesagt, da bin ich ganz sicher, habe ich nichts mehr,
bevor ich aufstand und Gittas Wohnung so langsam und mechanisch verließ, als wäre ich in Hypnose versetzt worden.
»Markus, noch einmal, ganz ehrlich: Es tut mir wirklich sehr, sehr leid, dass ich nicht vorsichtiger war und mich von der
besonderen Atmosphäre an diesem Abend leiten ließ, ich habe deine Gefühle für mich wohl nicht richtig einschätzen können«,
begann Gitta ohne weitere Vorreden, »aber dasmuss jetzt ein für alle Mal ein Ende haben. Ich habe schon Probleme genug an der Schule, auch ohne dich. Und ich werde dir
jetzt etwas erzählen, das mich sofort meinen Job kosten könnte, wenn du mit irgendjemandem darüber sprichst.«
Das klang … nun … nicht so, als habe sich Gittas Verhältnis zu unserer Beziehung verändert. Trotzdem brannte ich darauf, ihre Geschichte zu
hören. Auf das, was dann geschah, war ich allerdings nicht vorbereitet. Nicht im Geringsten.
»Dazu möchte ich dir jemanden vorstellen«, setzte Gitta fort, »oder vielleicht hast du ihn ja auch schon einmal gesehen.«
Sie stand auf und rief »Joseph? Kommst du mal bitte?!« in den Flur hinein.
Kurz darauf öffnete sich die Küchentür. Sie brauchte ihn mir tatsächlich nicht vorzustellen. Joseph Boldt trat ein, der Mann,
der von der Schule geflogen war, weil er unserer Lehrerin
Frau Herrmanns
unter den Rock gegriffen hatte, so hieß es jedenfalls. Ich glotzte ihn mit offenem Mund an wie eine Erscheinung. Er reichte
mir die Hand. Fester Händedruck. Leises Lächeln, mit einer Spur Belustigung darin, aber zu gleichen Teilen Verlegenheit.
»Das ist Joseph Boldt«, sagte Gitta überflüssigerweise, »vielleicht hast du ja von gewissen Gerüchten gehört.« (Das wäre jetzt
der Moment, wo ich möglicherweise genickt haben
könnte
, aber ich weiß es wirklich nicht mehr.)
»Nun, Joseph und ich haben uns im vergangenen Jahr kennengelernt und sind uns, wie man so sagt, nähergekommen.« Dazu grinste
Gitta verlegen und ich konnte plötzlich genau sehen, dass sie wirklich erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Allerdings musste
ich zugeben, dass Boldt mit seinen zwanzig Jahren und dem massiven Körperbau eines Basketballspielers nicht unbedingt wirkte,
als eigne er sich als Opfer einer übergriffigen Lehrkraft. Gitta muss meine Gedanken gelesen haben.
»Wir haben uns übrigens in Aachen in einer Kneipe getroffen und nicht etwa in der Schule, wie es immer erzählt wird, Joseph
war nie mein Schüler.« (Noch ein Nicken meinerseits womöglich, wobei ich sicher bin, dass mein Mund sich zu dem Zeitpunkt
noch nicht wieder geschlossen hatte.)
»Leider liefen wir dann in Aachen einigen Mitschülern von Joseph über den Weg, und die hatten nichts Besseres zu tun, als
ihren Eltern davon zu berichten, was wiederum dem Direktorium an der Schule zugetragen wurde. Du kannst dir schon denken,
wie das weiterging.«
Mehr noch, ich wusste es: mit immer saftigeren Gerüchten nämlich. In der letzten Version, die man sich auf dem Pausenhof erzählte,
war unsere Deutschlehrerin so gerade noch an einer Vergewaltigung in der Schulturnhalle vorbeigeschrammt.
»Krichel war natürlich rechtschaffen empört und wollte uns gleich
beide
von der Schule schmeißen. Du kennst ihn ja. Jedenfalls handelten wir einen Kompromiss aus«, sagte Gitta, »Joseph ging ohne
großes Aufsehen freiwillig von der Schule ab und ich suchte mir für das nächste Schuljahr einen neuen Job. Das war die Absprache.
Deshalb macht Joseph in Aachen sein Abitur und wohnt hier bei uns, was natürlich in Blankenburg niemand weiß. Dann würde mich
Krichel noch nachträglich rauswerfen und meine Personalakte mit seinem Geifer überziehen, sodass ich auf dieser Seite der
Erdkugel keinen Job mehr bekommen würde. Jedenfalls nicht an einer Schule, an der auch Jungen unterrichtet werden.«
Im ersten Moment hielt ich das für keine schlechte Idee.
Meinem
Schulunterricht hätten ein paar ihrer Reize weniger ganz gut getan.
»Deshalb bitte ich dich, Markus«, fuhr Gitta fort, »erzähle niemandem ein Wort von dem, was ich dir gerade gesagt habe. Ich
wollte nur, dass du das alles weißt, weil ich dich mag und dir zeigen möchte, dass ich dir vertraue.«
(Klar, und damit ich endlich Ruhe gebe, denn wenn unser Direktor auch nur von dem
Gerücht
erfahren würde, dass eine gewisse
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