Der Mönch und die Jüdin
vor einer Frau niederkniete, einen anderen Mann mit einer Laute. Er musizierte vor einem Balkon, von wo aus ihm eine Dame Blumen zuwarf. Die Schrift war klar und gut lesbar, aber die Sprache verstand er, wie vermutet, nicht. Er musste an das denken, was Gilbert am Vorabend über das Hohelied gesagt hatte. »Diese Bilder … dann wird in diesem Buch die weltliche Liebe gefeiert – genauso, wie es nach Gilberts Deutung auch im Hohelied geschieht?«
»Ja, auch die Dichter dieser Lieder sind der Meinung, dass die weltliche Liebe nicht sündig ist«, sagte Brigid. Sie reichte ihm den kleinen Bogen Pergament, den sie aus dem Pult geholt hatte. »Das möchte ich dir zum Abschied schenken. Ich hoffe sehr, dass wir uns bald wiedersehen. Bewahre es gut auf, als kleines Andenken an mich.« Sie wirkte plötzlich etwas nervös und unsicher.
Die Worte auf dem Pergament waren in einer sanft geschwungenen, klaren Schrift geschrieben. Sie sah viel schöner aus als Konrads eigene, die sich bisher notgedrungen immer stark an Fulberts strengen Linien orientiert hatte. Man spürte, dass der Schreiber seine Kunst und die Sprache liebte. Fasziniert betrachtete Konrad die harmonische Symmetrie der Buchstaben, die darauf schließen ließ, dass dieser Schreiber zweifellos ein Meister seines Faches war!
Erst jetzt las Konrad den Text:
Schau, im heiligen Hain grünt der Lebensbaum!
Das Wunder der Schöpfung trägt dich und mich.
Liebendes Herz, träume den heilenden Traum!
Im Garten der Zeit wollen wir wandern ewiglich.
»Danke«, sagte Konrad. »Das ist sehr schön.« Das Gedicht kam ihm ausgesprochen religiös vor, obwohl die Kirche oder der Herr darin mit keinem Wort erwähnt wurden. Für einen Augenblick war er versucht, Brigid zu fragen, woher dieser Text stammte. Bestimmt hatte ein hochgelehrter Mönch das Gedicht verfasst, und es war dann vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt worden.
Doch Brigid wich seinem Blick aus, stand rasch auf und holte ihm eine Schnur. »Hiermit kannst du es zubinden. Es wird jetzt Zeit, dein Pferd zu satteln.«
Konrad rollte das Pergament ein und band die Schnur darum. Er wollte gerade dazu ansetzen, sie nach der Herkunft des Pergamentes zu fragen, als Brigid sagte, sie werde nicht mit hinunterkommen. Sie umarmte ihn. Es kam unerwartet und heftig, und doch hatte er das Gefühl, dass nichts Unanständiges oder Unsittliches in dieser Geste lag. »Gib gut auf dich acht, Konrad«, sagte sie leise, küsste ihn rasch auf die Wange und ging hinaus. Ihre Schritte verhallten auf dem Flur, der zu den Wohngemächern hinüberführte.
Konrad schaute ihr verwundert nach und stieg dann die Treppe hinunter. Im Burghof vor den Ställen waren Anselm und Gilbert gerade dabei, ihre Pferde zu satteln, wobei ihnen einige Knappen zur Hand gingen. Auch Wolfram und zwei andere Ritter machten sich reitfertig. Anselm wirkte mürrisch und schlecht gelaunt. Er zeigte auf die kleine Pergamentrolle in Konrads Hand. »Was hast du da?«
Konrad öffnete die Rolle und zeigte ihm das Gedicht. »Brigid hat mir das geschenkt. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, sie nach der Herkunft des Textes zu fragen. Er muss von einem großen und sehr gläubigen Dichter verfasst worden sein, und schaut Euch die Schönheit der Schrift an! Bestimmt stammt das Pergament aus dem Skriptorium eines großen Klosters, wo wahre Meister der Schreibkunst am Werk sind.«
Anselm schüttelte den Kopf. »Rainald hat mir voller Stolz noch andere solcher Gedicht-Pergamente gezeigt. Ich weiß, wer sie verfasst hat.«
»Rainald? Rainald von Falkenstein hat das Gedicht geschrieben?«, fragte Konrad erstaunt. Das hätte er diesem zwar gutmütigen, aber doch oft recht grob wirkenden Ritter niemals zugetraut.
»Ach, Konrad! Brigid hat dieses Gedicht und noch andere geschrieben. Es ist ihre Schrift. Rainald ist sehr stolz auf Brigids schriftstellerische Gabe.«
»Aber … das kann doch gar nicht möglich sein, dass sie das geschrieben hat! Ich meine … sie ist doch eine Frau!«
Anselm verdrehte in gespieltem Entsetzen die Augen. »O Herr, lass Verstand vom Himmel regnen! Konrad, schau dir diesen Kopf an!« Er tippte sich an die Stirn. »Ist dieser Kopf größer als ein Frauenkopf, beispielsweise größer als Brigids Kopf?«
»Also … eigentlich nicht.«
Anselm seufzte. »Wenn Frauenköpfe ungefähr genauso groß sind wie Männerköpfe, warum sollen dann Frauen dümmer sein als Männer? Warum sollen sie nicht in der Lage sein, genau wie ein Mann lesen und schreiben
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