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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Véronique die Waffe. Ohne zu zögern warf sie sie mit all ihrer Kraft nach dem Kopf des Operetten-Pioniers, aber sie verfehlte ihn. Der Revolver flog durch die Tür, den Flur und über das Treppengeländer aus Schmiedeeisen. Er landete im Erdgeschoss auf den Tonfliesen des Vorraums.
    Der Pionier brummte wie ein gereizter Bär. Mit einem Ausfallschritt stürzte er mit gezücktem Bajonett auf Véronique zu. Er spießte sie genau dort an das Klavier, wo der schöne Name Laharpe mit Goldbuchstaben zu lesen war. Véroniques leblos herabfallender Arm ließ alle tiefen Noten des Klaviers zugleich erklingen.
    Noch viel ungestörter als zwei Stunden vorher – denn jetzt waren alle Cafés geschlossen und der Posten ohne Gewehr vor der Polizeidienststelle war über L’Auberge de Peyrebelle in Schlaf versunken – konnte man nun in Digne mit dem Gesicht eines Mörders herumlaufen, ohne dass irgendjemand darauf geachtet hätte.
    Die sich undeutlich abzeichnende Masse, die da unter den Straßenlaternen davonschlich, bestehend aus einem Moped, einem vermummten Penner und einem voluminösen, in den Fahrzeugrahmen geklemmten schwarzen Paket, konnte unbehelligt ihren Weg fortsetzen.
    Mit seiner schwächlichen Lampe und seinem vorschriftsmäßigen roten Rücklicht bewegte sich das Moped verstohlen auf dem Boulevard Victor Hugo dahin, völlig allein unter den großen Kastanien, von denen ständig ohne Vorwarnung grüne stachelige Früchte zu Boden fielen. Ganz allein und einzig in seiner Art fuhr es den ganzen Boulevard hinunter, ohne auf ein entgegenkommendes Auto, einen von einem Abenteuer heimkehrenden Liebhaber, ja noch nicht einmal auf einen in Mülleimern wühlenden Hund zu stoßen. Am Ende des Boulevards bog es nach rechts ab, fuhr eine Zeit lang an der leise wispernden Bléone entlang, überquerte die Bailey-Brücke und verschwand auf der Straße nach Barles.
    Hin und wieder ließ der schwarze, an der Lenkstange festgebundene Gegenstand ein dumpfes Dröhnen ertönen, wie der Klagelaut eines gefangenen Tieres.

4
    ER war älter geworden und hatte eine Erbschaft gemacht. Um in Ruhe seinen Selbstvorwürfen und wehmütigen Erinnerungen nachhängen zu können, hatte er sich diese Villa im extravaganten Stil gekauft, Popocatepetl * genannt. Die Tür ließ er immer weit offen stehen, wahrscheinlich in der Hoffnung, eines Tages ermordet zu werden.
    Im Erdgeschoss hatte er sich seine wohnliche Höhle eingerichtet, auf der westlichen Seite des Hauses, wo vier hohe Fenster auf den Park hinausgingen. Je älter er wurde, desto mehr liebte er diese endlosen und Tag für Tag wiederkehrenden Abendstunden, die sich am herbstlichen Himmel abzeichneten. Regungslos beobachtete er jedes Mal aufs Neue, wie der letzte Lichttropfen in den Bäumen erstarb.
    Der Rest des Hauses, eine weite Leere, die immer noch vom Widerhall tragischer Worte erfüllt war, diente ihm nur dazu, seine Katzen zu beherbergen und Stoff für seine Träume zu finden. In seinem Alter brauchte er keine freudvollen Träume mehr, mit den traurigen kam er voll und ganz zurecht.
    Auch mit sechzig fiel es ihm immer noch sehr schwer, Richtig und Falsch auseinanderzuhalten, sich zwischen dem Festen und dem Schwankenden zu entscheiden, das Gute vom Bösen zu trennen, sich aus Überzeugung für etwas einzusetzen und nicht, um jemandem einen Gefallen zu tun; klar zu erkennen, welcher von zwei unterschiedlichen Meinungen der Vorrang gebührte; ja, sich ein für alle Mal darüber klar zu werden, ob er nun an Gott glaubte oder nicht, und danach zu handeln.
    Er war eben ein kontemplativer Typ – so zumindest nannte er die schwankende Unentschlossenheit seines Charakters, die ihm jeden Schmerz ersparte.
    Er hatte geplant, sich in Courbons niederzulassen oder sich nach Piégut zurückzuziehen, wo er ja ein Haus besaß und wo Apfel, Wacholder und Drosseln zu finden waren. »Aber wo kann man sich letztlich besser fühlen als in Digne?«, hatte er sich gefragt.
    Hier kannte ihn jeder. Alle nannten ihn Kommissar, obwohl er schon seit fünf Jahren keiner mehr war. Sollte er einmal ohne Regenschirm ausgehen, würde ihm sofort einer gereicht werden; sollte er kein Geld dabei haben, hätte er überall Kredit, sogar im Tabakladen oder bei der Post! Er konnte mit der Zuneigung der gesamten, ihm in vielen Dingen so ähnlichen Bevölkerung rechnen und nutzte das schamlos aus.
    Doch auch die Zuneigung, die ihm die Natur ringsumher entgegenbrachte, mit dem Zauber ihrer Berge, ihrer Hügel und ihrer Täler,

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