Der Mond ist nicht allein (H´Veredy Chroniken) (German Edition)
Ich bin keine Mordmaschine. Ich bin keine Anführerin. Selbst der grausamste Tod, den der Ewige Dschungel zu bieten hat, ist mir tausendmal lieber, als wenn Menschen sich untereinander etwas antun.“
„Dann wirst du uns verlassen und wieder in den Wald gehen?“, fragte Alf, der den Schreck über Verenas Ausbruch offenbar schon wieder überwunden hatte.
„Nein, ich werde hierbleiben und sehen, was ich tun kann. Die Tyrannei dieser Stadt Lianta Xintall geht schon viel zu lange so. Sie zerstören andere Städte und versklaven die Bewohner. Und das alles, um die Natur um sie herum noch rascher zerstören zu können. Wenn sie das tun, werden sie von ihr besiegt. Ich werde es hassen und mich weit fort wünschen. Aber diesmal werde ich kämpfen. Notfalls werde ich sogar eine Art Anführerin.“
*
Die Unterkünfte der aus Lianta Xintall mitgebrachten Sklaven waren in einem beschlagnahmten Kontorkomplex eingerichtet worden. Eigentlich hätte Mira an der Front sein sollen, um dort ´große Momente der Befriedungsaktion´ in kriegsverherrlichenden Gemälden festzuhalten. Doch hatte man versäumt, zu organisieren, wie sie ohne Beine dort hinkommen sollte.
Seit Mira durch ihre Fähigkeiten wertvoll genug geworden war, damit ihre Herren ein wenig in sie investierten, war sie mit einer Art Rollstuhl ausgestattet. Das Gerät erinnerte an einen Gehwagen für Babys. Es gab keinen Sitz. Mira hing in einer Art gepolsterter Stofftasche mit Löchern für die Beinstümpfe. Durch große Räder vorne wie hinten konnte Mira es mit den Händen ganz gut bewegen. Sah man von dem viel zu großen Gewicht der hölzernen Konstruktion ab, gab es eigentlich nichts daran zu bemängeln. Nichtsdestotrotz konnte man sie als Sklavin damit nicht quer durch die umkämpfte Stadt zockeln lassen. Daher saß sie hier fest und beschäftigte sich damit, Farben zu mischen und Pinsel zu pflegen.
Blutrot. Das werde ich in den kommenden Tagen am dringendsten brauchen. Blut und Tod und Unterdrückung. Das ist alles, was es hier gibt. Wie soll ich aus den Zügen von verzweifelten Menschen, die mit Peitschen zu den Minen getrieben werden, etwas Heroisches machen? Wie soll ich es versuchen, ohne auf die Leinwand zu kotzen? Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit den Tiegel mit dem giftigen Weiß auszulöffeln und Schluss zu machen. Ich ….
Schmerzen brachen unvermittelt über Mira herein. Ihr ganzer Kopf schien von außen und innen mit Hämmern und glühenden Nadeln bearbeitet zu werden. Durch heftige aber nutzlose Abwehrbewegungen mit den Armen riss sie ihren Rollstuhl um und stürzte seitlich in einen Stapel Leinwände. Irgendetwas hielt ihren Geist in eisernem Griff.
Ich muss in den Wald. Wichtig. Dringend in den Wald. Erreiche schnell den Dschungel! Zur Tür hinaus und in dieser Richtung aus der Stadt raus! In den Wald! Los!
Nur ein kleiner Teil von Miras Bewusstsein konnte sich mit den Schmerzen beschäftigen, obgleich sie übermächtig waren. Ein winziger Funken ihres eigenen Geistes glühte noch vor sich hin und fragte sich, was um alles in der Welt sie denn zu so unsinnigen Gedanken wie: ´ Geh, lauf los! ´ und sogar: ´ Na los, einen Fuß vor den Anderen!´ trieb.
Sie begann, sich mit den Armen über den Boden vorwärts zu ziehen. Gegen diesen Zwang konnte sie nicht ankämpfen. Andere Sklaven kamen hinzu, um ihr wieder in ihren Stuhl zu helfen. Mira schlug wild auf sie ein, bis sie von ihr abließen. Erst an den Toren des Grundstücks wurde sie aufgehalten. Natürlich gab es Wachen und Sklavenaufseher. Mira wurde gepackt und zurück ins Haus getragen. Diese Bewegung in die falsche Richtung bereitete ihr unerträgliche Qualen. Sie schrie wie eine Irre. Tatsächlich gab es einen winzigen Teil von ihr, der davon ausging, den Verstand verloren zu haben.
Abrupt fiel die Besessenheit von Mira ab. Die Peitsche des Aufsehers zerriss ihr den Rücken. Sie war an einen Pfahl gefesselt und konnte sich nicht entsinnen, wie sie dort hingelangt war. Der nächste Peitschenhieb ließ diese Frage in den Hintergrund treten. „Das blüht denjenigen, die glauben, von ihren Pflichten fliehen zu können!“
Diese Belehrung des prügelnden Aufsehers hatte sich schon lange in den Geist jedes Sklaven eingebrannt. Erst später, als Mira auf dem Bauch auf einem Strohlager lag und bitterlich weinte, fragte sie sich wieder, was sie geritten hatte, so durchzudrehen.
Ich habe den Gedanken an Flucht nie aufgegeben. Aber so plump? Werde ich jetzt verrückt? Hat mich mein
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