Der Müllmann
hatte sich vorgebeugt, das
Notebook in Lucios Aktenkoffer gelegt und es dann mitgenommen. Aber er hatte
Lucio nicht angefasst.
»Ganz sicher nicht.«
Einen Moment lang sagte er nichts, dann hörte ich ihn seufzen.
»Okay. Ich liebe Verschwörungstheorien. Aber ich kann mir beim besten Willen
nicht vorstellen, wie irgendwer das hätte arrangieren können. Also sind diese
Quittungen kein falscher Hering. Unser Herr Achim Krüger könnte einer sein,
aber zumindest hat er mit Lucio zu tun gehabt. Es sieht so aus, als hätte
Gernhardt dir tatsächlich den Ungarn geliefert.«
»Kannst du mir sagen, wo sich dieses Telefon befindet?«
»Ich habe schon nachgesehen. Es war in den letzten Tagen mehrfach
kurz eingeschaltet. Immer abends, kurz vor zehn, für zehn Minuten. Immer im
Bereich der Frankfurter Innenstadt.«
»Wie sieht es mit einer GPS-Ortung aus?«
»Kein Problem. Nur hat dieses Modell keinen GPS-Chip. Er wäre ja
blöd, so eines zu kaufen, nicht wahr?«
Nun, außer Brockhaus kannte ich niemanden, der aus dem Kopf wusste,
welches Handymodell einen solchen Chip besaß oder nicht.
»Heinrich?«, unterbrach Ludwig meine Gedanken.
»Ja?«
»Kümmere dich um Richter. Dann verspreche ich dir, dass ich alles
tue, was du willst. Sogar umsonst. Aber sorge dafür, dass er ihr nicht mehr
wehtun kann.«
Ich hatte ihn nicht fragen wollen, aber … »Sag mir, was hast du
eigentlich mit der Frau zu tun?«
Stille in der Leitung. Für einen Moment befürchtete ich schon, dass
er aufgelegt hätte.
»Sie ist meine Schwester.« Jetzt hatte er aufgelegt.
Brockhaus
traute niemandem. Er verstand sich als ein Datenpirat, ein Rebell, vielleicht
sogar als Anarchist. Oder Aktivist. Was auch immer. Er leistete, wie er mir
einmal erklärt hatte, Widerstand gegen den Versuch des Staates, den Bürger zu
einer Nummer im System zu reduzieren. Er hatte mir Vorträge darüber gehalten,
wie das Datenvolumen über jeden einzelnen von uns von dem Geklüngel von
Wirtschaft und Politik dazu verwendet werden konnte, uns zu manipulieren.
»Sie wissen
statistisch, was wir denken, Heinrich«, hatte er mir ernsthaft erklärt. »Damit
kann man in einem Wahlkampf genau berechnen, mit welchen Lügen man sich welche
Stimmen fängt und wie weit man damit gehen kann, uns zu bevormunden. Sie
bleiben genau unterhalb der Grenze dessen, was uns rebellieren lassen würde. So
wissen sie genau, mit was sie durchkommen können und mit was nicht. Die
Finanzkrise? Sie wussten seit Jahren, dass es kommen würde. Das Ganze ist ein
Spiel. Man hört immer, dass riesige Vermögenswerte vernichtet wurden, aber wenn
du jetzt schaust, sind sie alle reicher als zuvor. Und alles deshalb, weil man
genau weiß, wie man uns die Lügen und falschen Versprechen so auftischen kann,
dass wir sie glauben wollen.«
Er glaubte fest daran, dass die Politik schon längst ein Handlanger
der Geldelite wäre und dass alles einem geheimen Plan oder Strukturen folgte,
die dem Machterhalt einiger weniger dienten. Er ging sogar so weit, zu
behaupten, dass die Finanzkrise künstlich erzeugt worden sei, um billige Gelder
freizusetzen, mit denen der Rohstoffmarkt übernommen werden konnte. In seinen
Augen war er ein einsamer Kämpfer an der Front gegen den globalen Kapitalismus,
und sie alle waren hinter ihm her. Er konnte niemandem trauen, noch nicht
einmal seinen besten Freunden. Nicht einmal mir.
Aber wenn es stimmte, was er mir eben gesagt hatte, dann hatte er
mir eben seinen einzigen Schwachpunkt genannt.
Ich öffnete die Akte von Annabelle Richter, die Brockhaus mir
geschickt hatte. Ihr Mädchenname war Berwanger gewesen und ja, sie hatte einen
älteren Bruder gehabt. Er war vor siebzehn Jahren bei einem Wasserskiunfall ums
Leben gekommen. Aber seine Leiche hatte man nie gefunden. Bei Google fand ich
noch etwas Interessantes. Anton Ludwig Berwanger hatte mit vierzehn sein Abitur
gemacht, und mit zweiundzwanzig hatte er einen Doktortitel in theoretischer
Physik und Stochastik sein Eigen nennen dürfen. Er war ein glühender Verfechter
der Chaostheorie gewesen. Nicht, dass ich davon viel verstanden hätte, aber er
hatte seinen Gedankenansatz in einem Artikel selbst erklärt.
»Mit dem von mir entwickelten Ansatz ist es möglich, Korrelationen
zwischen scheinbar unabhängigen Ereignissen zu erkennen und, was wichtiger ist,
auch mathematisch zu beweisen.« Einen Monat nach Erscheinen dieses Artikels war
er nur knapp einem Autounfall entkommen. Es gab ein paar kleinere Artikel in
den
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