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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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es gab Vertreter zahlreicher geringerer Künste, und auch der geringsten: der Poesie. Die Künstler kamen, weil Imre das bot, was Künstler am dringendsten brauchen: ein kompetentes und zahlungskräftiges Publikum.
    Und Imre profitierte von der Nähe zur Universität. Der Zugang zu Kanalisation und Sympathielampen verbesserte die Luftqualität der Stadt. Gutes Glas war leicht erhältlich, und daher waren Fenster und Spiegel allgegenwärtig. Sogar Augengläser und andere Linsen gab es, auch wenn sie kostspielig waren.
    Dennoch waren die beiden Städte einander nicht besonders wohlgesinnt. Den meisten Bürgern von Imre behagte der Gedanke gar nicht, dass sich dort drüben über tausend kluge Köpfe mit dunklen Mächten befassten. Wenn man einen von ihnen reden hörte, konnte man leicht vergessen, dass in diesem Teil der Welt seit fast dreihundert Jahren kein Arkanist mehr verbrannt worden war.
    Umgekehrt sollte man erwähnen, dass man an der Universität die Einwohner von Imre ebenfalls mit einer gewissen Verachtung sah und sie als ausschweifend und dekadent empfand. Die in Imre sohochgeschätzten Künste galten an der Universität als nutzlos und frivol. Von Studienabbrechern hieß es oft, sie seien »über den Fluss gegangen«, was besagen sollte, dass Geister, die der akademischen Welt nicht gewachsen waren, sich damit begnügen mussten, in den Künsten zu dilettieren.
    Und hüben wie drüben wurde letztlich geheuchelt. Die Studenten der Universität beklagten sich über die ach so frivolen Musiker und die sich aufplusternden Schauspieler und standen dann doch Schlange, um Eintritt für ihre Auftritte zu zahlen. Die Einwohner von Imre schimpften darüber, dass man sich in der Nachbarstadt in widernatürlichen Künsten übte, doch wenn ein Aquädukt einstürzte oder jemand ernstlich krank wurde, riefen sie schnell nach den an der Universität ausgebildeten Ingenieuren oder Ärzten.
    Alles in allem glich die Lage einem schon seit langer Zeit bestehenden Waffenstillstand, bei dem sich beide Seiten beklagten, aber auch widerwillig Toleranz übten. Die von gegenüber waren ja schließlich durchaus zu etwas nütze, und man wollte eigentlich bloß nicht, dass die eigene Tochter so jemanden in die Familie brachte …
    Da Imre eine Musik- und Theatermetropole war, könnte man meinen, dass ich dort viel Zeit verbrachte, aber das Gegenteil war der Fall. Ich war erst ein einziges Mal dort gewesen. Simmon und Wilem hatten mich in ein Wirtshaus mitgenommen, in dem ein Trio aufgetreten war – Laute, Flöte und Trommel. Ich ließ mir für einen halben Penny ein kleines Bier geben und nahm mir fest vor, den Abend mit meinen Freunden zu genießen …
    Aber ich konnte einfach nicht. Nur Minuten, nachdem die Musik begonnen hatte, floh ich buchstäblich aus dem Saal. Ich bezweifle, dass ihr verstehen könnt, woran es lag, deshalb muss ich es wohl erklären.
    Ich konnte es nicht ertragen, der Musik nahe zu sein, ohne an ihr teilzuhaben. Das war, als würde man der Frau, die man liebt, dabei zusehen, wie sie mit einem anderen Mann ins Bett steigt. Nein. Nein, das trifft es nicht. Es war eher wie …
    Es war eher wie mit den Dennersüchtigen, die ich in Tarbean gesehen hatte. Denner-Harz war natürlich eine verbotene Substanz, aber in den meisten Gegenden der Stadt scherte das niemanden. DieHarzklumpen wurden wie Bonbons in Wachspapier verkauft. Wenn man sie lutschte, erfüllten sie einen mit einem Hochgefühl, mit Glück und Zufriedenheit.
    Ein paar Stunden später aber schlotterte man am ganzen Leib und gierte nach mehr, und diese Gier wurde umso größer, je länger man das Harz schon nahm. Einmal hatte ich in Tarbean ein Mädchen gesehen, das höchstens sechzehn Jahre alt war und das die typischen tief liegenden Augen und widernatürlich weißen Zähne einer schwer Süchtigen hatte. Sie flehte einen Seemann an, ihr das Stück Harz zu geben, das er höhnisch außerhalb ihrer Reichweite hielt. Er sagte, sie könne es haben, wenn sie hier auf der Straße nackt für ihn tanzte.
    Sie tat es, ohne sich darum zu kümmern, wer alles zusah, und auch ohne sich darum zu kümmern, dass es fast Mittwinter war und sie bis zu den Knöcheln im Schnee stand. Sie zog sich aus und tanzte, und ihre mageren, bleichen Gliedmaßen zitterten, und ihre eckigen Bewegungen waren Mitleid erregend. Und als der Seemann dann lachte und den Kopf schüttelte, fiel sie im Schnee auf die Knie, weinte und flehte, umklammerte seine Beine, versprach alles zu tun, was

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