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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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seines beträchtlichen Charmes. So macht er das.« Sie ergriff mein Kinn und wandte mein Gesicht zu sich. Sie hatte grüne Augen mit einem goldenen Ring um die Pupille. »Willst du dich einfach nur so durchschlagen? Oder willst du, dass ich stolz auf dich bin?«
    Darauf gab es nur eine Antwort. Und nachdem ich mich erst einmal in die Sache hineingekniet hatte, erwies es sich lediglich als eine weitere Form der Schauspielerei. Nur ein weiteres auswendig zu lernendes Skript. Meine Mutter dachte sich Reime aus, um mir zu helfen, mir die unsinnigeren Elemente der Etikette einzuprägen, und gemeinsam schrieben wir ein kleines unanständiges Lied zu diesem Thema. Meine Mutter verbot mir strengstens, es meinem Vater vorzusingen, aus Furcht, er könnte es womöglich eines Tages den falschen Leuten vortragen und uns alle damit in große Schwierigkeiten bringen.

    »Baum!« Der Ruf erscholl vorn in der Kolonne. »Große Eiche!«
    Mein Vater hielt mitten in dem Monolog inne, den er mir rezitierte, und seufzte verärgert. »Dann kommen wir heute nicht mehr weiter«, murrte er und sah zum Himmel empor.
    »Halten wir?«, rief meine Mutter aus dem Wageninnern.
    »Da liegt schon wieder ein Baum auf der Straße«, erklärte ich.
    »Nicht zu fassen«, sagte mein Vater und lenkte den Wagen zu einer freien Stelle am Straßenrand. »Ist das hier eine Straße des Königs oder nicht? Man könnte meinen, wir wären die einzigen Leute, die hier unterwegs sind. Wie lange ist der Sturm schon her? Zwei Spannen?«
    »Nicht ganz«, sagte ich. »Sechzehn Tage.«
    »Und immer noch blockieren umgestürzte Bäume die Straße! Ich hätte nicht übel Lust, dem Konsulat für jeden Baum, den wir zersägen und von der Straße räumen mussten, eine Rechnung zu senden. Das wirft uns weitere drei Stunden zurück.« Der Wagen kam zum Stehen, und er sprang ab.
    »Ich finde es schön«, sagte meine Mutter, die von der Rückseite des Wagens aus dazukam. »Das verschafft uns die Gelegenheit, etwas Warmes zu uns zu nehmen.« Sie schenkte meinem Vater einen vielsagenden Blick. »Es ist doch ärgerlich, wenn man sich immer nur mit dem begnügen muss, was am Ende des Tages gerade noch greifbar ist. Der Körper braucht doch mehr.«
    Die Laune meines Vaters besserte sich sichtlich. »Das ist wohl wahr«, sagte er.
    »Schatz?«, rief meine Mutter zu mir herüber. »Meinst du, du könntest mir etwas wilden Salbei pflücken?«
    »Ich habe keine Ahnung, ob hier welcher wächst«, erwiderte ich mit eben der richtigen Unsicherheit im Ton.
    »Es kann nicht schaden, danach zu suchen«, erwiderte sie vernünftigerweise. Aus dem Augenwinkel sah sie zu meinem Vater hinüber. »Pflück einen Armvoll, wenn du genug findest. Das trocknen wir dann für später.«
    Es spielte normalerweise keine große Rolle, ob ich fand, was ich suchte, oder nicht.
    Ich hatte die Angewohnheit, mich abends von der Truppe zu absentieren. Normalerweise hatte ich irgendeine Besorgung zu erledigen, während meine Eltern das Abendessen zubereiteten. Aber das war für uns alle nur ein Vorwand, um auch einmal allein sein zu können. Privatsphäre ist unterwegs ein kostbares Gut, und die beiden brauchten das ebenso wie ich. Und daher störte es sie gar nicht, wenn ich eine geschlagene Stunde brauchte, um einen Armvoll Brennholz zu sammeln. Und wenn sie bei meiner Rückkehr noch gar nicht mit der Zubereitung des Abendessens begonnen hatten, war das schließlich nur recht und billig so, nicht wahr?
    Ich hoffe, sie verbrachten diese letzten Stunden mit etwas Schönem. Ich hoffe, sie vergeudeten sie nicht mit irgendwelchen geistlosen Tätigkeiten: dem Entfachen des Lagerfeuers oder dem Kleinschneiden von Gemüse. Ich hoffe, sie sangen etwas miteinander, wie sie es so oft taten. Ich hoffe, sie zogen sich in ihren Wagen zurück und lagen einander in den Armen. Ich hoffe, sie lagen auch anschließend noch beieinander und plauderten über Kleinigkeiten. Ich hoffe, sie waren zusammen und liebten sich, bis das Ende kam.
    Das ist eine kleine Hoffnung, und eine sinnlose dazu. Tot sind sie so oder so.
    Dennoch hoffe ich es.

    Überspringen wir die Zeit, die ich an jenem Abend allein im Wald verbrachte, mit kindlichen Spielen befasst. Die letzten sorglosen Stunden meines Lebens. Die letzten Augenblicke meiner Kindheit.
    Überspringen wir meine Rückkehr ins Lager, kurz vor Sonnenuntergang. Den Anblick der Leichen, die wie zerschlagene Puppen herumlagen. Den Geruch von Blut und verbranntem Haar. Wie ich ziellos umherging,

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